Gewalt in Nigeria: Die Stadt der Barrikaden
Die zentralnigerianische Stadt Jos war ein beliebtes Ausflugsziel. Bis sie sich zu einem Schmelztiegel ethnischer und sozialer Gewalt entwickelte.
JOS taz | Das Klima ist mild, und nirgendwo sonst gedeihen Obst und Gemüse so gut. Jos, die Hauptstadt des nigerianischen Bundesstaats Plateau, war einst ein beliebtes Ausflugsziel. Doch heute ist schon die Fahrt dorthin eine Plage. Es dauert zehn Straßensperren und zehn Soldaten, bis man endlich in Jos ist.
An jeder Straßensperre leuchtet ein unfreundlicher Soldat mit einer Taschenlampe ins Auto und knurrt den Fahrer an. "Woher kommt ihr?", will er wissen. Der Fahrer begrüßt ihn leise auf Haussa, der wichtigsten Sprache in der Region. Nachdem er den Kofferraum auf- und wieder zugemacht hat, geht es weiter zur nächsten Sperre. An der zehnten platzt einem der Mitfahrer der Kragen.
Er sitzt hinter dem Beifahrersitz, trägt ein bunt gestreiftes Hemd und eine Fliegermütze, wie sie auch Entwicklungsminister Dirk Niebel während seiner Afrikareisen aufzusetzen pflegt. "Ich bin vom Bildungsministerium", fährt er den Soldaten an. Der lässt sich überraschend schnell beeindrucken, und der alte, schlammbraune Peugeot darf weiterfahren.
An Kontrollen mussten sich die Menschen, die in Jos leben, längst gewöhnen. Doch seit Wochen sind sie massiv verschärft worden. Nicht nur an den Stadtgrenzen, sondern auch im Zentrum. Überall rauschen nagelneue, grün schimmernde Geländewagen über die Straßen. Auf den Ladeflächen sitzen Soldaten in Tarnanzügen und schauen fast schon gelangweilt den Fußgängern zu. "Das hat die Regierung getan: Sie hat mehr Soldaten geschickt. Doch das hilft gar nichts, denn so wird der Konflikt nur unterdrückt", ärgert sich Samuel Goro, der das interreligiöse Zentrum für Friedensförderung (Cepan) in Jos leitet, und blickt wütend auf die Straße.
Samuel Goro, evangelischer Pastor, spielt auf die Veränderungen seit Heiligabend an. In den christlichen Vierteln Anguwan Rukuba und Gada Biyu kam es zu vier Explosionen, 80 Menschen starben, mitten in den letzten Vorbereitungen für das Weihnachtsfest.
Im April wählen die 140 Millionen Nigerianer einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Der Wahlsieger von 2007, Musa Umaru YarAdua, ein Muslim aus Nordnigeria, starb 2009 und wurde durch seinen Stellvertreter Goodluck Jonathan ersetzt, einen Christen aus dem Süden. Dieser will sich nun regulär wählen lassen, aber mächtige Nordnigerianer sind dagegen. Es mehrt sich politisch geschürte Gewalt: im Nigerdelta, Jonathans Heimatregion; im Nordosten, wo radikale Islamisten stark sind; im "Middle Belt" um den Bundesstaat Plateau mit der Hauptstadt Jos, wo Christen und Muslime, Süd- und Nordnigerianer gemischt leben.
In Jos starben bei Bombenanschlägen auf Christen kurz vor Weihnachten 2010 rund 80 Menschen. Seitdem sind über 200 Menschen in und um Jos weiteren Angriffen zum Opfer gefallen. Zuletzt wurde in der Nacht zu Montag im Dorf Dabwak eine fünfköpfige christliche Familie getötet. (dj)
Christen vs. Muslime
Weit über 200 Menschen sind seitdem in und um Jos in wechselseitigen Racheangriffen ums Leben gekommen. In die Gegend rund um Gada Biyu traut sich kaum noch ein Muslim, denn Jos ist geteilt wie nie zuvor. Dabei lebten früher auch Muslime in mehrheitlich christlichen Gegenden und umgekehrt. Augustina Haruna jedenfalls hatte sich über viele Jahre nie darüber Gedanken gemacht. Die Katholikin ist mit einem Muslim verheiratet. "Meine Schwiegermutter hat mich damals gefragt, ob ich dazu bereit wäre. Und ich war es."
Viele Jahre hat sie deshalb mit ihrem Mann in Rikos Kato am Stadtrand von Jos gelebt, dort die vier eigenen Kinder und die Zwillinge ihrer verstorbenen Schwester großgezogen. "Tina war es, die unsere Kinder während des Ramadan geweckt hat, damit sie vor Sonnenaufgang etwas essen." Das hat ihr Mann Alhadji Abdulaziz Haruna immer wieder stolz erzählt, seine Frau bewundernd von der Seite angeschaut und sie liebevoll Tina genannt.
Doch jetzt ist Tina fort, zu ihrer Schwester geflüchtet. Am Telefon klingt sie müde und fertig. "Wir haben uns in den vergangenen zwei Monaten genau zweimal gesehen." Ihre Angst ist riesengroß. "Ich bin doch die einzige Christin, die noch dort sein würde. Was würden sie wohl mit mir machen?"
Wer tatsächlich hinter den Anschlägen von Heiligabend steckt, die die Stadt so stark zerrüttet haben, lässt sich bis heute nicht sagen. Zuerst bekannte sich per Videobotschaft eine islamistische Gruppe dazu, von der noch niemand etwas gehört hatte. Mittlerweile hat Boko Haram die Verantwortung übernommen. Boko Haram - übersetzt etwa "Westliche Bildung ist Sünde" - gilt in Nigeria derzeit als das größte Sicherheitsrisiko.
Die radikalislamistische Gruppe mit Hauptquartier in Maiduguri, Hauptstadt des nordöstlichsten Bundesstaates Borno, begann bereits im Sommer 2009 einen Aufstand gegen die Staatsmacht in mehreren Städten Nordnigerias; bei dessen Niederschlagung wurden über tausend Menschen getötet. Sie hat sich gerade wieder zu einem tödlichen Attentat bekannt und will nach eigenem Bekunden einen der Gouverneurskandidaten in Borno ermordet haben. Weitere Anschläge sollen folgen.
Im muslimischen Viertel rund um die Zentralmoschee und den großen Markt von Jos ist es laut und wuselig. An den Straßenrändern sitzen Händler, bieten Stoffe, Gemüse, Datteln und Kolanüsse an. Einige verschleierte Frauen erledigen die letzten Einkäufe, bevor es zu dämmern beginnt, und kleine Jungs ziehen durch die Straßen. Ihre T-Shirts und Stoffhosen sind dreckig, und jeder hält eine schäbige Plastikschüssel in der Hand. Irgendjemand wird ihnen schon ein paar Naira oder etwas zu essen in das Plastikgefäß legen.
Vom lauten Straßenleben ist im Haus von Sheik Balarabe Dawud nichts zu spüren. Sein Anwesen liegt etwas abseits auf einem Hinterhof. Der "Chief Imam" der Zentralmoschee sitzt in seinem Besucherzimmer auf einem großen Sofa. Immer wieder muss er das Gespräch unterbrechen, weil sein Handy klingelt. Als er das letzte Gespräch beendet hat, wird er einen Moment still und kneift dann ein wenig seine Augen zusammen.
"Boko Haram soll hinter den Anschlägen stecken?", fragt er rhetorisch. "Das weiß ich nicht. Wir wissen doch nicht einmal, wer Boko Haram ist. Wir kennen niemanden, der zu Boko Haram gehört", sagt er dann und will sich nicht auf weitere Spekulationen einlassen. Sheik Balarabe Dawud streicht eines der Kissen glatt, dann platzt er heraus mit dem, was ihn schon so lange quält. "Sie nennen uns Siedler. Und damit sollen wir keinerlei Rechte haben."
Siedler vs. Einheimische
Siedler und Einheimische: dieses Wortpaar beschreibt die Auseinandersetzungen wohl am besten. Denn in Plateau hält niemand mehr den Konflikt für einen religiösen, auch wenn auf den ersten Blick Christen gegen Muslime und Muslime gegen Christen kämpfen. Vielmehr geht es um zwei Fragen: Wem gehört Jos wirklich, und wer hat die Macht in Plateau? Denn die Gegend ist im Laufe der vergangenen 100 Jahre zum Schmelztiegel geworden. Verantwortlich dafür war nicht das milde, freundliche Klima, sondern einmal mehr waren es Bodenschätze.
Daran erinnert auch das Museum, das einige Kilometer vom muslimischen Viertel entfernt liegt. Das kleine Gebäude ist umgeben von riesigen, alten Bäumen, an deren Ästen Vögel ihre Nester gebaut haben. Die ganze Anlage wirkt fast unwirklich. Denn mitten in Jos ist es hier plötzlich wieder ruhig, grün und friedlich. Musa führt durch die Ausstellung. Er erklärt, wie in den vergangenen 100 Jahren rund um Jos Zinn abgebaut worden ist. Dieser lockte zu Beginn des vorigen Jahrhunderts vor allem Siedler aus dem Norden an, von denen die meisten muslimische Haussa waren.
Ihre Arbeitskraft wurde in den Minen gebraucht, denn die Einheimischen, die sich überwiegend zum Christentum bekannten, wollten lieber weiter in der Landwirtschaft arbeiten. Über Jahrzehnte ging die Arbeitsteilung gut, bis die Minen geschlossen wurden. Die Siedler wollten bleiben, schließlich war Jos über die Jahre auch zu ihrer Heimat geworden.
In dieser Heimat sind die meisten Menschen nur noch müde, ganz gleich, ob sie sich nun Christen oder Muslime, Einheimische oder Siedler nennen. Und die meisten von ihnen haben Angst. Dazu kommen wirtschaftliche Einbußen. Wer will schon in der krisengebeutelten Stadt ein Unternehmen aufbauen oder Urlaub machen? Das spürt auch Musa, dem die Besucher seit Monaten ausbleiben. "Du weißt ja, die Krise", sagt er.
Um das Wort "Krise" wieder streichen zu können, wird indes wenig getan. Zwar bieten einige nichtstaatliche Organisationen Friedensprojekte an, doch mit so viel Engagement kann die Regierung nicht aufwarten. Im Gegenteil: Samuel Goro ist sicher, dass die wiederkehrenden Ausschreitungen von wenigen Drahtziehern organisiert und finanziert werden. "Woher sollen die jungen Leute denn sonst das Geld für Messer und Pistolen bekommen?", redet er sich in seinem kleinen Büro in Rage und wird dann noch etwas lauter: "Die Täter sind doch bekannt. Aber niemand wird bestraft."
Er ärgert sich nicht nur über die Jugendlichen, die immer wieder durch die Straßen ziehen, Häuser niederbrennen und Menschen abschlachten. Seine Wut richtet sich gegen die Hintermänner, zu denen - wie in Jos viele denken - sicherlich auch der ein oder andere Politiker zählt. Für unschuldig hält er aber ebenso wenig Kirchen und Moscheen. "Es gibt Anzeichen dafür, dass dort Waffen gelagert werden. Stell dir vor, dort, wo eigentlich Frieden gepredigt wird!" Und dann lehnt er sich ein wenig in seinem Stuhl zurück und holt tief Luft: "Aber irgendwann kommen wir dahin. Irgendwann werden wir Frieden haben."
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