Getto-Chronik von Lodz: Die Fakten und die Hoffnungen
In der Getto-Chronik von Lodz wurden Geburten, Todesfälle und Essenseinfuhren genauestens dokumentiert. Jetzt kann sie auch im Netz gelesen werden.
1940 fand sich im Getto des heutigen Lodz eine Gruppe von jüdischen Insassen zusammen, die beschloss, eine Chronik für die Nachwelt anzulegen. Wie sollten sie das eigene Leiden beschreiben? Mit welchen Worten Grausamkeiten zu Papier bringen? Wie das Unfassbare der Nachwelt begreiflich machen? Die Chronisten des Gettos Litzmannstadt versuchten es mit statistischen Angaben. "Tagesbericht vom 17. April 1944: Tagesmittel 12 bis 20 Grad, sonnig. Sterbefälle: 20. Geburten: fünf Jungen, zwei Mädchen. Bevölkerungsstand: 77.534." Weiter spricht der Bericht über diesen Tag von den Einfuhren an Kartoffeln und Roter Beete.
So spricht aus jeder Zeile der Getto-Chronik der Wunsch ihrer Autoren, die Nachwelt möge glauben, was an diesem Tag geschehen ist. Sie sprechen als Zeugen, nicht als Leidende. Die Chronisten müssen sich die Leser als Richter vorgestellt haben, die anhand des Sachgehalts entscheiden, ob die Zeugenaussagen stimmen oder nicht.
An jedem Tag schrieben sie Daten und Fakten auf, bis zum 30. Juli 1944. Die Tagesberichte des letzten Jahres der Getto-Chronik sind nun im Internet abrufbar. Das Herder-Institut Marburg, die Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Universität Gießen und einige Kooperationspartner haben sie ins Netz gestellt und um Fotos und Dokumente aus dem Getto ergänzt. Die Tagesberichte sind auch als Podcast verfügbar.
"Kleiner Getto-Spiegel"
An der Sammlung der aus mehreren tausend mit Schreibmaschine geschriebenen Seiten arbeiteten im Auftrag der jüdischen Getto-Verwaltung in erster Linie fünf Personen, vier Männer und eine Frau. Die Mehrheit von ihnen war vorher als Journalisten und Schriftsteller tätig gewesen. Wie bei einer Zeitung bestand die Chronik aus mehreren Rubriken mit tagesaktuellen Meldungen. Der untere Teil der Tagesberichte umfasst an manchen Tagen Reflexionen, die sich mit Ereignissen wie die Zuteilung von Lebensmitteln auseinandersetzen. Am 1. Juli 1944 erfreut sich unter dem Titel "Kleiner Getto-Spiegel" der Autor daran, dass an diesem Tag die Post keine Ausreise-Aufforderungen zugestellt, die Getto-Insassen eine Lebensmittelration für mehrere Tage und einen Laib Brot erhalten hatten: "Mit einem Wort: Ein goldener Samstag!"
Verstörend wirkt aus heutiger Sicht die Hoffnung, die aus den kurzen Texten am Schluss der Berichte spricht. Am 8. März gelang es einem Juden namens Bernstein, einen Ersatzmann für die Deportation zu finden. Der Preis, den Bernstein zu bezahlen hatte, lag bei vier Broten, einem Kilogramm Zucker und einem Pfund Margarine. Sein Vertreter meldete sich daraufhin im Zentralgefängnis zum Transport an, aß einen ganzen Laib Brot, "räkelt sich auf seiner Pritsche und meint, dass es ihm seit 4 Jahren noch nicht so gut gegangen sei". Der Ausgang der Deportationen, die voraussichtliche Ermordung, war auch im Jahr 1944 vielen Gefangenen im Getto nicht bekannt.
Die Juden hofften auf Befreiung, dies geht aus vielen Berichten hervor. Ihr Optimismus speiste sich auch aus der Tatsache, dass die Luftangriffe sich häuften und die Rote Armee näher kam. Zum anderen lebte sie aus einer Fantasie, die auf einen Gedanken von Gerechtigkeit baute.
"Leistungsfaehigkeit der Juden bewiesen"
Einige Autoren dachten an bestimmten Tagen, dass sich die Getto-Insassen mit hoher Arbeitsleistung das Überleben erkaufen könnten. Schließlich schufteten sie in Betrieben, die billig und in großen Mengen vor allem Wehrbedarf wie Munition und Uniformen produzierten. Der Vorsitzende des Judenrats, Chaim Rumkowski, erteilte am 1. August 1943 der Abteilung für Gummiproduktion den Auftrag, Versuche mit Kautschuk durchzuführen. Das Projekt begann. Im Tagesbericht steht: "Man sieht, dass auch auf diesem Gebiete die Initiative und Leistungsfaehigkeit der Juden bewiesen ist."
Leider setzen die Verantwortlichen der Chronik im Internet ein enormes Fachwissen bei den Lesern voraus. Die Abkürzung FUKR etwa, die in Dutzenden von Berichten erscheint, wird nicht in einer einzigen Fußnote erklärt. Über das Suchfeld der Seite erfährt man zwar, dass die Buchstaben für Fach- und Kontrollreferat stehen. Doch was es damit auf sich hatte, bleibt unbekannt. Nach nur einer halben Seite Lektüre sammeln sich so oft viele unbeantwortete Fragen an. Grundlegende Informationen zum Getto findet der Leser leider nicht auf dieser Seite. Aber hier hilft Wikipedia weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“