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GesundheitspolitikRegierungsberater zurückgetreten

Jürgen Gohde, Chef des Beirats für die Neudefinition der Pflegebedürftigkeit, schmeißt hin. Seine Erklärung: er "wollte die Menschenwürde sichern".

Demenzkranke werden bis jetzt nicht ausreichend versorgt, findet Jürgen Gohde. Und geht. Bild: dapd

BERLIN taz | Das "Jahr der Pflege", zu dem das Bundesgesundheitsministerium 2011 ausgerufen hatte, endet mit einem Eklat: Der Vorsitzende des Beirats für die Pflegereform, Jürgen Gohde, gibt seinen Posten auf. Gohde sagte, er sehe "keine Chance" mehr für eine "erfolgreiche Arbeit". Die Bedingungen, zu denen er den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der die Besserstellung von Dementen vorsieht, im Auftrag von Minister Daniel Bahr (FDP) habe umsetzen sollen, seien inakzeptabel.

Es fehle nicht nur die sichere finanzielle Perspektive, sondern der notwendige politische Wille, die Pflegereform umzusetzen. Gohde: "Mir aber ging es um die Sicherung einer menschenwürdigen Pflege." Die schwarz-gelbe Koalition steht damit vor einem pflegepolitischen Gau. Gohde, Ex-Präsident des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche, gilt in der Pflegeszene als unverzichtbar - wegen seiner fachlichen Expertise, seiner Fähigkeit, widerstreitende Interessen zu integrieren, und seiner Glaubwürdigkeit.

Bereits unter Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hatte er Szenarien durchgerechnet für eine Pflege, die Leistungen nicht nur anhand der körperlichen, sondern auch der geistigen Gebrechlichkeit bemisst. Diese hätte jährlich zwischen 2 und 4 Milliarden Euro zusätzlich gekostet.

Das Bundeskabinett hingegen hatte in diesem Herbst beschlossen, die Pflegebeiträge zum Jahr 2013 um 0,1 Prozentpunkt zu erhöhen, was 1,1 Milliarden Euro Mehreinnahmen pro Jahr bedeutet. Dieses Geld dürfte jedoch allein dafür gebraucht werden, um die bereits bestehenden Pflegeleistungen zu finanzieren. Bahr behauptete, Gohdes Entschluss zu "bedauern". Er habe jedoch Ersatz. Den Pflegebedürftigkeitsbegriff umsetzen sollten nun der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller (CSU), und Klaus-Dieter Voß, Ex-Vorstand des Spitzenverbands der Krankenkassen.

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1 Kommentar

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  • C
    chrisfre

    Dass Herr Gohde in Zeiten gesellschaftlicher Entsolidarisierung und der der Verwaltung statt der Sicherung von Grundbedürfnissen im Gesundheits-unwesen verpflichteten Politik unter dem Primat der Effizienz den in Vergessenheit geratenen Begriff der MENSCHENWÜRDE in Erinnerung ruft, ehrt ihn. Es gibt offenbar noch einer politischen Ethik verpflichtete "letzte Mohikaner"!

     

    Die kranken Kassen haben in diesem Jahr Überschüsse 'erwirtschaftet. Gleichwohl ist unter Minister Bahr,

    was den Torso Gesundheitsreform und etwa das Einschreiten gegen die Praktiken der Pharmalobby

    in Arztpraxen und Apotheken, die kriminelle Selbstbedienung der Spitzenvertreter der Kassenärztlichen Vereinigung und der Unterbezahlung der Pflegeberufe betrifft,zu diesem Thema nichts verlautbart worden.

     

    Welch faulen deal von der Leyen als Unterstützung denjenigen, die demente und behinderte Angehörige zuhause pflegen, anbietet, um die Kosten ihrer ‚Unterbringung’ niedrig zu halten,ist symptomatisch für die grundgesetzwidrige Antastbarkeit der Menschenwürde, umgesetzt von der gegenwärtigen Sozial- und Gesundheitspolitik. Ich schreibe dies, nachdem ich über 20 Jahre Erfahrungen gesammelt habe als Mutter eines schwerstbehinderten Kindes und im nahen Umfeld erlebt habe, was Demenz-

    kranken in Altenheimen widerfahren kann. In den Paralleluniversen der politisch Verantwortlichen gibt es selbstverständlich andere Optionen jenseits der Zweiklassenmedizin.