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■ Gespräch mit dem Holocaust-Forscher Raul HilbergAmerikas guter Krieg

taz: Die USA erleben zur Zeit eine Art „Holocaust-Boom“, großangelegte Museen werden eröffnet, zuletzt das in Washington, an dem Sie auch selbst mitarbeiten. Die jüdische Zeitschrift „Tikkun“ hat kritisiert, daß hier der Holocaust für zionistische Politik instrumentalisiert werde. Wie stehen Sie zu dieser Einschätzung?

Raul Hilberg: Tikkun wird von einem einzelnen Mann herausgegeben, der im wesentlichen seine eigene Position verbreitet, man darf das nicht überschätzen. Was er geschrieben hat, war taktlos. Aber es gibt eine viel ernstzunehmendere Kritik an dem „U.S. Holocaust Memorial Museum“: Der Holocaust fand in Europa statt, nicht in Amerika. So ein Museum gehört nach Berlin, nicht nach Washington. Einige Leute fragen sich: Warum soll der Amerikaner sich damit befassen? Er hat es doch nicht zu verantworten; die Opfer waren keine Amerikaner. Inzwischen ist aber das öffentliche Bewußtsein der Amerikaner „verweltlicht“: Wenn eine Bevölkerungsgruppe eine Katastrophe erlebt hat, gehört das zur amerikanischen Geschichte.

Das Interesse am Zweiten Weltkrieg begann nach dem Vietnam- Krieg. Im Gegensatz zu Vietnam war das der gute Krieg, da wußte man, wer die Bösen waren, worum es ging. Deswegen ist dieses Thema bei jungen nichtjüdischen Amerikanern sehr populär. 1978 war eine Art Wendepunkt. Damals wurde nicht nur die „President's Commission on the Holocaust“ gegründet, damals wurden die Nazis gejagt, die in die USA geflohen waren, die Fernsehserie „Holocaust“ wurde ausgestrahlt, eine Flut von Büchern erschien – alles eben nach Vietnam.

Ist diese Form der Beschäftigung nicht sehr emotional?

Ja, es ist eine gefühlsmäßige Annäherung, aber sie hat Konsequenzen für die Gestaltung der amerikanischen Politik. Und das ist nicht einmal neu. Schon Präsident Truman schaffte, aus nur oberflächlicher Kenntnis der Ereignisse in Deutschland, alle Gesetze, die zur Ausgrenzung einer bestimmten Bevölkerungsschicht führen würden, ab; so integrierte er schwarze Soldaten in die Streitkräfte. Eine andere Konsequenz ist das „Man darf nicht wegschauen“. Deshalb landen amerikanische Truppen in Somalia, ohne jede strategische Überlegung, einfach, um Menschen zu retten.

Die Bundesregierung wird in Berlin an der Neuen Wache eine nationale Gedenkstätte für alle Opfer des Zweiten Weltkriegs einrichten, für Wehrmachtssoldaten und Juden gleichermaßen.

Es ist schwierig, aber erklärlich. Man will die Eigenen nicht vergessen, nur weiß man nicht, wie man sie einordnen soll. Es sind sehr viele Deutsche im Krieg gefallen, viele sind in Gefangenschaft umgekommen und man will das nicht vergessen – man soll es auch nicht vergessen. Die Frage ist natürlich, ob man ein solches Mahnmal, auch für SS-Soldaten selbstverständlich, neben ein Denkmal für andere Opfer setzen will, als sei da eine Gleichstellung: Die Täter sind Opfer, vielleicht sind dann die Opfer auch Täter... Da entsteht eine Verwirrung. Man muß diese Dinge nicht nur für Akademiker, sondern auch für das gewöhnliche Volk klar beschreiben. Das Schwierige daran ist: Man darf keine Erklärungen abgeben, wenn es keine Erklärungen gibt.

Ihnen ist jüngst vorgeworfen worden, ähnlich wie Hannah Arendt die Möglichkeiten jüdischen Widerstands zu überschätzen.

Man kann immer sagen: Es hat soviel Widerstand gegeben, wie möglich war, das sagen ja auch die Deutschen von sich. Die Politologen haben seit dem Zweiten Weltkrieg eine theoretische Betrachtung entwickelt, die „game theory“ heißt und Verhaltensoptionen betrachtet: „Will ich einen Gewinn vergrößern oder einen Verlust vermindern?“ Diese Frage haben sich die jüdischen Gemeinden nicht gestellt. Sie versuchten, das zu tun, was sich in Jahrhunderten bewährt hatte, nämlich nicht Widerstand zu leisten. Das war der große Fehler in den Jahren 1941, 42. Man erkannte nicht, was die Deutschen vorhatten. Hannah Arendt behauptete, daß es nur die Judenräte waren, die Widerstandsbestrebungen unterdrückten und die Juden auslieferten. Natürlich habe ich nie etwas mit Hannah Arendt zu tun gehabt. Was sie über mich zu sagen hatte, ist ja in der Jaspers-Korrespondenz zu lesen, viel hat sie nicht von mir gehalten. Sie war in Politik oder Geschichte nicht bewandert, sie war nur Philosophin.

Der Widerstand war dürftig, nicht nur bei Juden, auch bei Franzosen, Deutschen oder in der SU. Warum das so war, kann man nur aus der Geschichte jedes einzelnen Volkes beantworten. Die Juden haben 1942 nicht einmal Aufklärungsversuche gemacht, wohin die Transporte gehen, warum keiner zurückkommt. Man hat nicht einmal psychologische Kriegsführung versucht, vielleicht hätte man in Worten und Schriften, ohne Waffen, etwas erreichen können. Der Widerstand kam erst, als die ganz jungen Leute die Gettos verließen, in Weißrußland oder Warschau in den Trümmern kämpften. Das war kein großer Widerstand, nur symbolisch wichtig; es hat keinen Deutschen lange aufgehalten. – Es geht dabei um eine Einstellung, und die hatte nicht nur die jüdische Führung, wie das Hannah Arendt ganz irrtümlich behauptet, sondern das gesamte jüdische Volk, auch die Gettobevölkerung: Alle waren sich einig, daß man so schwer wie möglich arbeiten müsse, damit „beim Verschwinden der Juden aus der deutschen Wirtschaft eine Lücke entsteht“.

Wie kommt es, daß Ihre Bücher noch immer nicht ins Hebräische übersetzt sind?

Ich bin gewissermaßen Persona non grata in Israel. Ich stehe nicht allein damit; selbst Eli Wiesel hat seine Schwierigkeiten. Man kann sein Buch „Nacht“ auf hebräisch nicht finden. Das Volk hat sich einen Staat aufgebaut, der mit den Gettojuden, dem Galut, der Diaspora nichts mehr zu tun hat. Israel fängt an, wo das Altertum aufhört. Deswegen ist die Archäologie in Israel so wichtig... (lacht). Weil die Jungen fragen: „Wie konnte das denn passieren, wir hätten doch gekämpft!“, hat die Regierung beschlossen, so zu tun, als ob die Kämpfer im Warschauer Getto schon Israelis gewesen wären! Yad Vashem (Gedenkstätte in Jerusalem), das ist fast stalinistisch.

Was genau kann das Wissen um die Vergangenheit bewirken?

Für einen Deutschen ist das eine psychologische Existenzfrage. Die Leute wollen wissen: Woher komme ich?, um zu wissen: Wo gehe ich hin? Die Vergangenheit ist die Erklärung der Gegenwart. Auch für die Zukunft hat das Implikationen. In Deutschland gibt es weniger Tabus als in Österreich, da ist ein großer Unterschied. Auch in den neuen Ländern kommt langsam zutage, was lange unter den Teppich gekehrt, in Archiven verschlossen war. Wie in Amerika hat das auch hier Konsequenzen. Franz Josef Strauß hat einmal gesagt, Deutschland sei ein wirtschaftlicher Riese, aber ein politischer Zwerg. Die Debatte jetzt, die große Vorsicht, ob ein deutscher Soldat in anderen Ländern kämpfen darf, erinnert daran. Kohl hat natürlich in Kroatien und Slowenien versucht, das zu ändern, aber im Außenministerium sind sie da noch sehr unsicher, die wissen garnicht, wie man das macht... (lacht). Das hat alles, alles mit der sogenannten Vergangenheit zu tun. Interview: Mariam Niroumand

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