: Gesichter der Grenzstadt
Warum Gabriele Krüger nach Arizona auswandern will, der Inder Zuftar Panjub im Osten gute Geschäfte macht und Frankfurt an der Oder in Europa ankommen möchte ■ Von Andrea Böhm
Es ist ein Uhr morgens, und in Bechis Kneipe sind alle Katzen grau. Der Skinhead mit den blankgewienerten Springerstiefeln zahlt und bringt seine Braut nach Hause. Der Staatsanwalt, von Berufs wegen öfter mit glatzköpfigen jungen Männern konfrontiert, bestellt sein erstes Bier. Am Stammtisch überlegen drei gesetzte Herren vom Frankfurter Stadtkabarett, ob sie an einem Abend sieben Stempel in ihrem Bierpaß vertragen. Die Türken bestellen eine neue Runde bei Bechis Barkeeper mit dem müden Gesicht und dem kahlgeschorenen Kampfschädel, der tagsüber auf dem Landgut seiner Familie ackert. „Rückerstattet nach der Vereinigung“, sagt Bechi.
Bechi heißt eigentlich Bechmann, hat ein Kreuz wie ein Bauernschrank und beeindruckende Armmuskeln. Bechi wollte gerne Geschichte studieren, aber dann kamen zwölf Jahre auf See und ein Parteiausschlußverfahren dazwischen, weswegen er auf Gastronomie umsattelte, die HO-Gaststätte in der Innenstadt in eine ansehnliche „Irish Corner“ umwandelte und der Geschichte nun auf eigene Faust nachgeht. Mit Waffen und dem Dritten Reich kennt er sich besonders gut aus – besser jedenfalls als die jungen Rechten, die in seiner Kneipe mit ihm diskutieren wollen, „und von nüscht 'ne Ahnung haben“. Mit seinem Stammgast Axel Schulz debattiert er über dessen weltweit bekannte Unfähigkeit, einen Knock Out zu landen; mit dem Staatsanwalt über die mangelnde Schlagkraft der Justiz gegen Jugendgewalt. Die BGS-Beamten erzählen nach Feierabend und ein paar Bier, wie sie die Grenze schützen würden, wenn man sie nur machen ließe. Die polnischen und irischen Bauarbeiter betäuben ihre müden Knochen mit Guinness, nachdem sie unter der Hand wieder ein paar Frankfurter Garageneinfahrten geteert haben.
Bechmann hört allen zu und schenkt allen ohne Rücksicht auf Herkunft ein – das gilt für das Bier ebenso wie für die Maulschellen bei Zechprellerei. Heute abend ist es ruhig, weswegen er bei Kaffee und Zigaretten über das deutsch- polnische Verhältnis räsonieren kann. Strenggenommen hat er keine Probleme mit Polen. Und strenggenommen sind die Polen, die in der Grenzregion Autos klauen und verschieben, „eigentlich keine Polen, sondern Russen“. Sagt jedenfalls Bechmanns polnische Putzfrau.
Städte sind Orte, an denen sich Fremde treffen, hat ein berühmter amerikanischer Soziologe einmal gesagt – und dabei bestimmt nicht an Frankfurt (Oder) und Bechis „Irish Corner“ gedacht. Dabei gäbe es für Soziologen einiges zu beobachten in der Grenzstadt, die zu DDR-Zeiten für ihre Leistungszentren in Sachen Staatssicherheit und Sport bekannt war. „Die Frankfurter sind ja ziemlich rührige und sportliche Menschen, wobei hier nicht nur zugeschlagen wird“, sagt Dieter Martiny und meint in diesem Fall die lange Tradition des Boxsports – nicht die jungen Rechtsradikalen, die gerade einen seiner polnischen Jurastudenten zum zweiten Mal überfallen haben. Man könnte Martinys Sarkasmus für die Überheblichkeit eines Westdeutschen halten, der sich bis vor kurzem „auf seinem Hamburger Sofa über den Osten gegruselt hat“. Aber der Professor legt Wert auf das Possessivpronomen, wenn er von „seiner Stadt Frankfurt“ spricht, an deren Universität er Jura lehrt – ein Ort, an dem sich ebenfalls Fremde treffen. Nur eben in anderem Ambiente als in Bechmanns Kneipe.
An dieser Hochschule, die der ehemaligen DDR-Bezirkshauptstadt mit ihren Plattenbauten, Baulücken und allenfalls noch röchelnden Industrieanlagen schon allein durch ihren Namen „Europa Universität Viadrina“ den Anspruch des Visionären verliehen hat, sind fast die Hälfte der knapp 3.000 Studenten Ausländer – die meisten aus Polen. Echte Polen, keine Russen, wie Bechmanns Putzfrau sofort anerkennen würde. Junge Männer und Frauen aus Wroclaw (Breslau), Poznan (Posen) oder Warschau, die neben ihrer Muttersprache fließend Deutsch, Englisch und Russisch sprechen, Jura, Wirtschafts- oder Kulturwissenschaften studieren und aus der Euphorie über den Fall des Eisernen Vorhangs einen offenbar unerschöpflichen Energievorrat angestaut haben. Der reicht für deutsch-polnische Kooperation im AStA, für die Hausarbeiten im Zivilrecht und für Kurse in Zivilcourage und „Anti- Gewalt-Training“ zur Vorbereitung auf unerwünschte Begegnungen mit jungen Rechtsradikalen.
Deren bevorzugte Treffpunkte liegen in unmittelbarer Nähe der Universität und des Grenzübergangs nach Slubice. Einen seiner polnischen Studenten traf Martiny eines Vormittags im Hörsaal mit Kopfverband an, einer nigerianischen Gaststudentin konnte die Universitätsleitung nur noch einen Entschuldigungsbrief hinterherschicken. Sie wollte letzten Sommer „Deutsch als Fremdsprache“ belegen, war zur Begrüßung von ein paar Glatzen durch die benachbarte Ladenzeile gejagt worden und nach drei Tagen Pöbeleien auf der Straße und in der Trambahn wieder abgereist. „Hier geht es erstens um die Einhaltung elementarer menschlicher Normen“, sagt Martiny, während er mit professoraler Zerstreutheit gegen den Kopierer kämpft, „und zweitens um die Gefahr für unseren Dienstleistungsbetrieb. Schließlich sind das unsere Kunden, die da verprügelt werden.“
Seit Januar ist er Ausländerbeauftragter der Universität – wohlwissend, daß ein paar Dutzend Inländerbeauftragte hilfreicher wären bei der Lösung des zentralen Problems seiner Stadt: Auf dem Weg nach Europa schleppt Frankfurt (Oder) einige Bürger mit, die ihre Zukunft allein im Deutschsein sehen – und das mit unterschiedlicher Neigung zur Militanz. Der Rest, vermutlich die Mehrheit, schwankt zwischen Schimpfkanonaden auf die Arbeitslosenrate von 21 Prozent und die „Pollacken“, die illegal malochen – und Shopping-Ausflügen nach Slubice, wo fast alles billiger ist: das Benzin, die Zigaretten, der Alkohol, der Astra Nightclub, der „Begleitung von netten Frauen versichert“, und der preiswerte Zahnarzt in der „Dental Clinica“.
Eine polnische Brücke in einem deutschen Gebiß ist in den Augen des örtlichen NPD-Chefs namens Jörg Hähnel Indiz für die Schwächung des deutschen Volkskörpers. Schließlich wolle man hier keine amerikanischen Verhältnisse, sagt der Azubi, der mit seinen 22 Jahren und einem unsteten Lächeln an einen nervösen, aber renitenten Klassensprecher erinnert. Manchmal kreuzen sich seine Wege mit denen von Dieter Martiny – zum Beispiel bei einer Veranstaltung im Frankfurter Rathaus zum Thema Rechtsextremismus, wo er mit ein paar Gefolgsleuten im heimgebastelten HJ-Outfit „zur Feindbeobachtung“ erscheint. Manchmal kreuzen sie auch die Wege des Staatsanwalts aus Bechmanns Kneipe, der gerade einem von Hähnels Kameraden ein Jahr Gefängnis ohne Bewährung für eine andere Art von „Feindbeobachtung“ verschafft hat: Der 20jährige, Mitglied der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“, hatte einen von Martinys polnischen Studenten mit vorgehaltener Schußwaffe gezwungen, sich fotografieren zu lassen. Neben der Kriminalität, doziert derweil der angehende deutsche Landschaftsgärtner Hähnel, sei die wachsende Überfremdung eine große Gefahr für den deutschen Arbeiter im besonderen und das deutsche Volk im allgemeinen. „Schauen Sie sich die USA doch an. Die haben doch kein Volk geformt. Höchstens 'ne Bevölkerung.“
Ein bißchen Bevölkerung formt sich nun ausgerechnet in Hähnels vermeintlicher Hochburg, dem Plattenbauviertel Neuberesinchen. Dort steht vor dem HEP-Einkaufszentrum Dinh, ein junger Vietnamese, in seiner Imbißbude, und beschwert sich, wenn er gerade mal zwei Minuten Zeit zum Reden hat, über „Polen viel betrunken“, die ihm den liebevoll zubereiteten „Döner komplett“ neben den Mülleimer kotzen, was nach Ansicht von Bechmanns Putzfrau eigentlich nur Russen tun. Nebenan verkauft Zuftar Panjub, der Inder, taubengraue Blousons für Herren ab 60 und metallic-grüne Bomberjacken für Herrenmenschen ab sechs, die er nach „der Prügelphase vor ein paar Jahren“ weniger als Gefahr denn als Kunden wahrnimmt. Wenn ihn an Deutschland etwas stört, dann „die vielen Schwarzen, die jetzt kommen“. In solchen Momenten zieht ein Hauch von New York durch Neuberesinchen: Fremde treffen Fremde, treiben miteinander Handel, können sich nicht leiden und sind überzeugt, hier ihr Glück zu machen.
Inzwischen kommen sogar Indianer in die Stadt. Nicht die „Krähenindianer“ aus dem benachbarten Fürstenwalde, die am Wochenende mit perlenbestickten Lederhosen ins Tipi kriechen, sondern Vince Bluefontaine, Rockmusiker vom Stamm der kanadischen Ojibwe. Gabriele Krüger organisiert dann Konzerte und Vorträge vor Frankfurter Schulklassen, wo Bluefontaine erklärt, daß sein Volk keineswegs ausgestorben, sondern Teil der amerikanischen Bevölkerung ist. Gabriele Krüger hatte von früher Jugend an ein Faible für die Indianer Nordamerikas, woran Karl May nicht unschuldig ist. Die Ankunft neuer Gesichter nach der Wende, die sie „Öffnung“ nennt, fand sie „herrlich“ und praktisch.
Es kamen Asylsuchende wie Jacob aus Togo, bei dem sie Englischunterricht nahm, was für ihre Korrespondenz mit Indianerorganisationen ebenso nützlich war wie für ihren Umstieg von der Materialbeschafferin im Halbleiterwerk zur selbständigen Wirtschaftsberaterin. Indianer und Schwarze sind mehr, als ihr Umfeld meint vertragen zu können. Der Nachbar, ein „ganz normaler Durchschnittsbürger“, hat ihr neulich einen „Denkzettel“ angedroht, falls sie noch einmal „Neger“ ins Haus bringt. Nachbarn kann man ignorieren, nicht aber den eigenen Sohn, der sich vor seiner Clique von den „Negerfreunden“ seiner Mutter bloßgestellt fühlt. Unlängst meldete der 17jährige abends in der Küche triumphierend das Verschwinden von zwei „Mischlingsfamilien“ aus der Nachbarschaft, denen seine Kumpels anonyme Drohbriefe geschickt hatten. „Ich kann noch nicht mal sicher sein, daß er nicht selbst mitgemacht hat“, sagt sie mit der ausdruckslosen Resignation einer Mutter, die nicht mehr länger rätselt, wann ihr das eigene Kind dermaßen aus dem Ruder gelaufen ist. Jetzt sitzt sie im HEP-Einkaufszentrum, wo man ihr kurz vor Weihnachten aus Angst, die Rechten zu provozieren, nicht erlaubt hatte, Unterschriften gegen Krieg und Hunger im Sudan zu sammeln – und träumt von Arizona. Je mehr Fremde in die Stadt gekommen sind, desto fremder ist ihr die eigene Familie geworden.
Ein paar Jahre will sie noch bleiben, dann in den USA den Neuanfang wagen, worin sie seit dem Ende der DDR ohnehin geübt ist. Über Amerika hat Zuftar Panjub auch schon nachgedacht. Sein Onkel betreibt in Kalifornien eine Tankstelle. Er schüttelt den Kopf. „Viel zu viele Schwarze.“ Viel zu gefährlich.
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