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GesellschaftIrgendwie der Katastrophe trotzen

Doch, es geht: Menschen mit palästinensischen und jüdisch-israelischen Wurzeln können friedlich und sachlich miteinander reden. Und damit Hoffnung verbreiten. So war es jedenfalls bei der jüngsten Kontext-Veranstaltung im Stuttgarter Kulturzentrum Merlin.

Diskutieren über den Gaza-Krieg: Ahmad Al Saadi, Shai Ottolenghi, Moderator Stefan Siller, Oron Haim und Rachaa Chahade (v.li.). Fotos: Julian Rettig

Von Gesa von Leesen

Die Bilder der zigtausend Flüchtenden in Gaza machen sprachlos, hilflos und manche:n wütend. Der Krieg nimmt an Härte zu, immer mehr Staaten wenden sich von Israel ab, mittlerweile erkennen 157 Länder Palästina als Staat an, zuletzt Frankreich. Das will die deutsche Bundesregierung nicht, Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) erklärte allerdings nach langem Stillschweigen, es sollten keine deutschen Waffen mehr nach Israel geliefert werden, die in Gaza eingesetzt werden könnten. Die Zerstörung Gazas geht unterdessen unverändert weiter. In Deutschland leben etwa 200.000 Menschen palästinensischer Herkunft und wahrscheinlich ähnlich viele mit jüdischen Wurzeln. Der Dialog zwischen den Gruppen – auch unter Deutschen ohne Migrationshintergrund – über den Krieg wird immer schwieriger. Ist er überhaupt noch möglich? Das hatte sich Kontext gefragt und am 23. September ins Kulturzentrum Merlin eingeladen, um Stuttgarter:innen vorzustellen, die sich genau diesen Dialog zur Aufgabe gemacht haben.

Die vier auf der Bühne kommen aus Israel, aus einem palästinensischen Flüchtlingslager in Syrien oder sind hier geboren, und sie verbindet der Wille. Gemeinsam arbeiten sie in und an Stuttgarter Projekten wie Sukkat Salam, Yad be Yad (Hand in Hand) und im Verein Kubus. Es sei ein schwieriger Weg, zu lernen, die andere Seite ernst zu nehmen, sie wirklich kennenzulernen, berichtet Rachaa Chahade. Weil alle Beteiligten so emotional verstrickt seien. 1985 waren ihre Eltern aus einem libanesischen Flüchtlingslager nach Deutschland geflohen. Sie selbst ist hier geboren, hatte aber lange den Status „staatenlos“. Für die deutsche Staatsangehörigkeit sollte sie einen Deutschtest ablegen – „da war ich im Gymnasium in der Oberstufe.“ Strukturellen Rassismus nennt sie diese Erfahrung mit deutschen Ämtern.

Ahmad Al Saadi hat nach 33 Jahren in Deutschland am 1. Oktober 2023 die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen – sechs Tage danach ermordete die Hamas 1.200 Israelis und verschleppte 251 als Geiseln. Israel schlug zurück – bis heute tobt der Krieg in Gaza. Mittlerweile sollen 65.000 Palästinenser:innen getötet worden sein, von den Geiseln sollen sich nach einigen Freilassungen noch 48 in der Hand der Hamas befinden, wie viele am Leben sind, ist unklar.

Al Saadi kam in einem syrischen Flüchtlingslager zur Welt, in Deutschland galt sein Status lange als „ungeklärt“. „Das ist noch weniger als staatenlos“, sagt er. So konnte er seinem Kind nicht mal seinen Nachnamen geben. Geändert habe sich das 2016 erst in Stuttgart. „Da hatte ich das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein.“ Doch nach dem 7. Oktober 2023 habe sich für ihn viel geändert. „Der Generalverdacht gegen Palästinenser und der Druck von vielen Seiten haben bei mir eine Identitätskrise ausgelöst.“ Er habe lange nachgedacht, erzählt er, und sei zu dem Schluss gekommen: „Mein Erbe ist nicht der Holocaust, mein Erbe ist die Nakba.“ Seine Stimme bricht, als er das sagt.

Schwer, die eigene Identität zu finden

Oron Haim ist vor neun Jahren über den Bundesfreiwilligendienst nach Deutschland gekommen, hiergeblieben und heute Sozialarbeiter. Er habe ein neues Leben anfangen wollen, erzählt er. Als Jugendlicher habe er in Israel ständig gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu protestiert. Das hätten viele gemacht, „auch schon vor dem 7. Oktober“, betont er, denn nicht alle Israelis seien mit dessen Politik einverstanden. Wie Netanjahu und sein teils rechtsextremes Kabinett heute agieren, zeige, was passiert, wenn man Faschisten nichts entgegensetzt, sagt Haim.

Ahmad Al Saadi beklagt den Generalverdacht gegen Palästinenser.

Kontext-Moderator Stefan Siller fragt nach Kontakten in die Heimat und was sie von ihren Leuten dort hören. Haim erzählt von einem Besuch bei Verwandten in Israel. Da sei eine Rakete über sie geflogen, er war total erschrocken. „Aber dort ist das normal“. Solche Erlebnisse kennt auch Chahade. Sie spricht davon, wie stoisch ihre Verwandten in Ramallah auf den Krieg reagierten, „oder besser: Sie sind abgestumpft“. Das sei eine Gemeinsamkeit auf beiden Seiten: „Dieses Gefühl, dein Leben kann jederzeit zu Ende sein.“

Der Tänzer Shai Ottolenghi aus Haifa sieht das etwas anders. Seit acht Jahren ist er in Deutschland, tanzt seit zwei Jahren bei der Tanzkompagnie Gauthier Dance. Seine Eltern leben in Modi’in nahe der Westbank. „Ich denke, meine Familie genießt relativen Frieden, selbst wenn sie Raketen hören. Dann sagen sie sich, es passiert schon nichts. Wir haben Bunker, den Iron Dome, die USA. Wir sind privilegiert im Vergleich zu den Palästinensern.“

Unter Besatzung ist kein Frieden möglich

Die Deutsch-Palästinenserin Rachaa Chahade wehrt sich gegen Rassismus.

Die persönlichen Geschichten der vier, die ständige Angst aller um ihre Familien, die Schwierigkeit besonders von palästinensischer Seite, in Deutschland Gehör zu finden, finden gespannte Aufmerksamkeit der rund 100 Gäste im Merlin. Moderator Stefan Siller leitet über zu den politischen Fragen: „Wäre der Krieg vorbei, wenn die Geiseln frei gelassen würden?“ Das habe Netanjahu schließlich mal erklärt. Haim kann ein verächtlich-höhnisches Lachen nicht ganz unterdrücken. „Netanjahu lügt seit Jahren.“ Nein, er glaube nicht daran. Chahade stimmt zu und geht auf die Frage ein, ob die Hamas überhaupt vernichtet werden könne. Das könne sie sich schwer vorstellen, sagt sie, solche Terrororganisationen arbeiteten ja dezentral, die führenden Köpfe säßen zudem im Ausland. Einerseits betont sie, die Menschen in Gaza würden die Hamas nicht unterstützen, warnt aber auch davor, dass es durch den Krieg gerade „eine krasse Radikalisierung auf beiden Seiten gibt“. Ahmad Al Saadi bringt die vergangenen Jahrzehnte ins Spiel: “Die Hamas wurde in den 80ern gegründet, den Kampf führen wir seit 100 Jahren“, sagt er. Die Auseinandersetzungen zwischen Juden und Palästinensern im Gebiet des heutigen Israels begannen noch vor der offiziellen Staatsgründung 1948. Al Saadi: „Das ist nicht der erste Krieg in Gaza.“ Doch die Auseinandersetzungen seien immer härter geworden. Ob Hamas oder morgen eine andere Organisation, solange es eine Besatzung gebe, werde sich wenig ändern, schätzt er.

Kein Pro, kein Contra

Oron Haim fordert Sanktionen gegen Siedler und die israelische Regierung.

Was wäre denn wohl besser, ein oder zwei Staaten, fragt Siller. Besser wäre eine Ein-Staaten-Lösung, sagt Al Saadi, in der beide Gruppen gleichberechtigt zusammenleben. Aber das brauche Generationen, zudem müsse Israel sich in der Region integrieren. „Ja“, stimmt Ottolenghi zu, ideal wäre ein Staat. Aber eine Zwei-Staaten-Lösung sei wohl realistischer, „wenn ich mir die Gesellschaften anschaue“. Denn dann gebe es wenigstens eine territoriale Klarheit. Eine Ein-Staaten-Lösung „würde die israelische Gesellschaft nicht mitmachen“, bekräftigte Oron Haim. Zumal: „Das wissen viele nicht, aber es gibt einen krassen Rassismus innerhalb der jüdischen Gesellschaft.“

Dazu käme Unwissenheit über die Lage der Palästinenser. Als Haim mit israelischen Freunden etwa über die Hungersnot in Gaza habe sprechen wollen, hätten die entgegnet: „Was laberst du? Die Leute wissen nicht, was da passiert.“ Wegen der Zensur. Das will Ottolenghi nicht gelten lassen. Ebenso wie hierzulande könne man sich auch in Israel in zig anderen Medien der Welt über die Lage informieren. Der Tänzer steht der israelischen Gesellschaft deutlich kritisch gegenüber. So gebe es zwar eine Umfrage, wonach 75 Prozent für ein Kriegsende sind. Doch der Grund sei wohl vor allem die Geiselbefreiung. „Das Leid der anderen Seite wird nicht nachvollzogen. Da macht nur eine Minderheit.“ Haim gibt zu bedenken: „Was sollen Israelis denn noch machen?“ In den vergangenen 15 Jahren sei der Begriff „links“ extrem diffamiert worden. „Wenn du heute in Israel vom ‚Leid der Palästinenser‘ sprichst, bist du eine linke Zecke.“

Shai Ottolenghi steht der israelischen Gesellschaft kritisch gegenüber.

Weiter steht die Frage im Raum: Was tun? Das eine sind politische Forderungen an die deutsche Regierung: Waffenlieferungen komplett einstellen, Menschen nicht entmündigen, sondern zusammenführen, fordert Chahade. Haim plädiert für Sanktionen gegen die Siedler durch Boykott von deren Produkten und gegen die israelische Regierung – keine, die die Bevölkerung treffen, denn das würde sie nur in die Arme Netanjahus treiben. Hier und vor allem in Israel und Palästina sollten diejenigen Organisationen unterstützt werden, die sich für ein friedliches Miteinander einsetzen. Für Chahade ist wichtig, nicht auf die Erzählung reinzufallen, dass man immer Partei für eine Seite ergreifen müsse. Das Wichtigste sei Humanität. „Wir lehnen Begriffe wie ‚pro Palästina‚ und ‚pro Israel‘ ab, denn dahinter steht immer ein contra.“

Die Spenden, die Kontext an diesem Abend sammelte, gingen an die Verständigungsprojekte, bei denen die Podiumsgäste mitwirken.

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