Gesellschaft: „Eine fatale neue Ausrichtung“
Sollte das Verbrennen von Flaggen erlaubt sein? Und ist Israelfeindlichkeit in Deutschland eigentlich ein Straftatbestand? Ein Gespräch mit Clemens Arzt, Verwaltungsrechtler im Ruhestand, der sich um die Versammlungsfreiheit in Deutschland sorgt.
Von Stefan Siller (Interview)
Herr Arzt, nach dem Überfall der Hamas und dem Gegenschlag von Israel wird nicht nur heftig diskutiert und dabei genau hingehört, ob etwas Falsches gesagt oder etwas Wichtiges weggelassen wurde, es wird auch viel demonstriert. Für Israel oder für Palästinenser oder für den Frieden. Manchmal auch nicht, weil die Demo gar nicht stattgefunden hat. Ist Ihnen eine Statistik geläufig, wie viele Demonstrationen nicht zugelassen wurden?
Dazu gibt es keine Statistik. Aber spannend finde ich, dass die Berliner Polizeipräsidentin sich Anfang November damit gebrüstet hat, dass Berlin bis zu diesem Zeitpunkt nur die Hälfte der Demonstrationen verboten habe. Nur! Da könne man, sinngemäß, gar nicht von Eingriff in die Versammlungsfreiheit reden. Das fand ich doch sehr überraschend. Von rund 35 bis dahin angemeldeten Versammlungen wurden 17 verboten.
Was ist denn ein guter Grund, eine Demonstration von vornherein zu verbieten?
Einen guten Grund gibt es eigentlich kaum. Man muss sehen, dass das mit der Rechtsprechung des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts zu Brokdorf angefangen hat, als dort in den Achtzigern Massen gegen das Kernkraftwerk demonstriert haben. Da wurde zum ersten Mal das noch sehr altertümliche und obrigkeitliche Versammlungsrecht von 1953 ein Stück weit durch Auslegung im Sinne der Versammlungsfreiheit korrigiert und versucht, es im Einklang mit einem modernen Verständnis von Versammlungsfreiheit auszulegen. Karlsruhe hat seither immer wieder klar gesagt: Eine Versammlung kann im Vorhinein nur verboten werden, wenn es zu massiven Ausschreitungen kommen wird, die nicht anders unterbunden werden können. Es braucht letztlich körperliche Gewalt. Vorabverbote waren bis Corona eher ein Tabu. Sie haben mit Corona bei den sogenannten Montagsspaziergängen breit angefangen. Seither hat sich das so etabliert, dass die Berliner Polizeipräsidentin nun meint: Wir haben doch nur die Hälfte der Versammlungen verboten.
Ist das verhältnismäßig? Hat bei der verbotenen Hälfte der Versammlungen tatsächlich die Gefahr bestanden, dass es ausartet und gewalttätig wird?
Nein, es ging nicht um die Frage der Gewalttätigkeit.
Aber es gibt doch rechtlich gesehen keinen anderen Grund.
Ja, das ist richtig. Vom Gesetz her gibt es keinen anderen Grund. Wenn man sich die Versammlungen, die aufgelöst wurden, einmal anschaut, ging es im Grunde vor allem um Meinungsäußerungsdelikte, um Widerstand und Sachbeschädigung. Wobei ich nicht sehe, wo da großartig Sachbeschädigung gegenüber Dritten begangen wurde. Widerstandsdelikte sind typisch, wenn die Polizei eine Versammlung auflöst. Die Teilnehmer wollen sich dem nicht unterwerfen, dann kommt es schnell zur Anzeige wegen Widerstand. Ich weiß nicht, wie jede einzelne Versammlung genau abgelaufen ist, aber gerade in Berlin ging es nur noch um Widerstandsdelikte. Und ich habe Bilder gesehen, wo die Polizei gegen banale Dinge wie Palästinaflaggen eingeschritten ist und sie den Menschen weggenommen hat. Das ist nicht akzeptabel.
Was kann denn der Bürger, der demonstrieren will, dann tun?
Das ist in der Tat ein schwieriges Problem. Wenn eine Versammlung vorher verboten wird, kann man dagegen vor Gericht gehen. Die Entscheidungen sind allerdings widersprüchlich, die muss man im Einzelfall anschauen. Es gibt Gerichte, die solche Verbote beanstandet haben, andere nicht. Mir fällt gerade keine aktuelle Entscheidung ein, wo nach der Auflösung einer Demonstration noch mal einstweiliger Rechtsschutz eingeholt wurde. Das ist natürlich auch eine Frage von Geld. Und die Veranstalter sind häufig Menschen aus der palästinensischen Community, die Hemmungen haben, zu Gericht zu gehen. Nicht zuletzt, weil viele von ihnen keinen rechtlich sicheren Status in Deutschland haben.
Nun geht es auch um Meinungsäußerungen, die mit der deutschen Staatsräson nicht vereinbar sind. Wenn einer „Free Palestine“ sagt, ist verständlich, was gemeint ist, weil es noch besetzte Gebiete im Westjordanland gibt. Wenn jemand dazu sagt „from the river to the sea“, könnte man sagen, da wird das Existenzrecht Israels in Frage gestellt. Ist es zulässig, deshalb eine Demonstration zu verbieten?
Nein. Die Polizei hat im Grunde die Oberhoheit zu entscheiden, was ein Meinungsäußerungsdelikt ist. Das ist problematisch mit Blick auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Aber auch dann kann sie die Versammlung nicht einfach auflösen, sondern muss zunächst versuchen, mit milderen Mitteln nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einzuschreiten. Wenn ein Transparent gezeigt oder eine Parole gerufen wird, von der die Polizei überzeugt ist, sie sei mit dem Strafrecht nicht vereinbar – und der einzige Maßstab, der hier relevant ist, ist das Strafrecht –, kann sie sagen: Sie beenden jetzt diese Parole, sie nehmen jetzt dieses Transparent runter. Wenn sich Teilnehmer daran halten, dann war es das mit Auflösen.
Bei „from the river to the sea“ gab es am Anfgang sehr erheblichen Streit, das wurde zwei, drei Tage nach dem Hamas-Überfall als Aufruf zur Vernichtung Israels verstanden. Später wurde es differenzierter betrachtet. Und dann kam der nicht ungeschickte Schachzug von Innenministerin Nancy Faeser zum Verbot der Hamas, was als solches sicherlich plausibel ist. Die Hamas hat, wenn ich es richtig weiß, 2007 diese Parole aufgegriffen. Aber die Geschichte der Parole ist viel älter. Und nun vertreten die Staatsanwaltschaften offenbar die Auffassung, „from the river to the sea“ sei von der Innenministerin verboten worden, weil die Hamas verboten wurde und damit strafrechtlich auch. Was absurd ist. Das wird spannend, das wird hoffentlich bis zum BGH und möglicherweise bis zum Verfassungsgericht nach Karlsruhe gehen. Eine so enge Auslegung gibt es nur in Deutschland. Wenn man sich die ausländische Presse anguckt, dann wird der Sachverhalt durchgängig völlig anders verstanden.
Kann eine Demonstration verboten oder abgebrochen werden, wenn ein Koran verbrannt wird?
Ich wüsste nicht, gegen welche Strafnorm das in Deutschland verstößt, das müsste ich aber genauer prüfen. Schon immer verboten ist, Flaggen irgendwo herunterzuholen, beispielsweise die Israel-Flagge vom Roten Rathaus in Berlin, und sie zu verbrennen. Seit zwei Jahren ist es auch verboten, eigene Flaggen zu verbrennen, also solche, die jemand selbst mitgebracht hat. Mit Blick auf die Idee der Meinungsfreiheit, dass Fahnenverbrennungen ein politisches Statement sein können, halte ich das für problematisch. Aber es ist eine Strafnorm, die bisher nicht verfassungsrechtlich beanstandet wurde.
In Artikel 8 Grundgesetz ist zu lesen, dass alle Menschen das Recht haben, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich zu versammeln. Im Versammlungsgesetz steht, Versammlungen müssen angemeldet werden. Mach ich einen Denkfehler oder widerspricht sich das?
Ja, das widerspricht sich evident. Karlsruhe hätte mit gutem Grund in der Brokdorf Entscheidung vertreten können: Die Anmeldepflicht ist verfassungswidrig, weil in Artikel 8 nicht vorgesehen. So weit wollte das Gericht aber nicht gehen und hat dann eine sehr differenzierte Rechtsprechung entwickelt: Es gibt Versammlungen, für die besondere Regeln gelten – etwa die Spontanversammlung, die jetzt, in diesem Moment, entsteht, braucht nicht angemeldet zu werden. Dann gibt es die Eilversammlung: Also wenn ich jetzt weiß, dass ich morgen demonstrieren will, kann und muss ich das anmelden, noch vor dem Aufruf, auch wenn die 48 Stunden nicht mehr beachtet werden können. Ansonsten ist die Rechtsprechung klar, dass auch der Verzicht auf eine Anmeldung, der meistens ein gewollter Verzicht ist, nicht reicht, um die Versammlung aufzulösen. Ein Nicht-Anmelden kann allenfalls die Schwelle für eine Auflösung etwas absenken. Etwa wenn die Polizei nicht in der Lage ist, in der kurzen Zeit genügend Kräfte heranzuführen. Aber hier wird auch ein bisschen Popanz betrieben und versucht, aus versammlungsbehördlicher und polizeilicher Sicht zu schauen, wie weit man gehen kann. Jedenfalls: Im Kern reicht es nicht aus, in keinem Fall, wegen einer Nichtanmeldung aufzulösen.
Meinen Sie, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland insbesondere beim Demonstrationsrecht gerade zu stark beschnitten wird?
Ich persönlich sehe hier eine fatale neue Ausrichtung, muss ich sagen. Das begann mit Corona, wobei ich ganz deutlich sagen möchte, dass ich vor allem in der Anfangszeit die Idee, dass Versammlungen ein hohes Infektionsrisiko haben, völlig plausibel fand. Und auch das Gebot, eine Maske zu tragen. Trotzdem hat man gerade am Anfang von Corona mit Totalverboten durch Rechtsverordnung Versammlungen für Tage und Wochen verboten, was aus meiner Sicht mit Artikel 8 nicht vereinbar ist.
Nach Corona kamen die „Klimakleber“, auch da wurde versucht, über wochenlange Allgemeinverfügungen und Ähnliches, deren Protest einzudämmen. Das war sozusagen der zweite Schritt neuer Maßstäbe. Und dann kam der 7. Oktober 2023, und jetzt gehen wir auf einmal auch inhaltlich massiv rein! Nämlich dass bestimmte Meinungen auf der Straße als nicht mehr vertretbar angesehen werden. Es gibt keine strenge Strafnorm, die Israelfeindlichkeit in Deutschland als solche bestrafen könnte. Es gibt das Verbot der Leugnung des Holocaust, also der Tatsachen der Vergangenheit. Darum geht es hier nicht. Aus meiner persönlichen Sicht wird versucht, Maßstäbe, die bisher für Artikel 8 und Artikel 5 des Grundgesetzes galten, einzuschränken. Also ja, die Versammlungsfreiheit in Deutschland ist in Gefahr. Das würde ich in der Tat so sehen.
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