piwik no script img

Gesellschaft„Dann stehen sie auf und singen“

Mit sechs Jahren ist Havva Engin als türkisches Migrantenkind nach Berlin gekommen, heute ist die 55-Jährige Leiterin des Heidelberger Zentrums für Migrationsforschung und transkulturelle Pädagogik. Im Land sei noch viel zu tun, sagt die Professorin. „Denn Baden-Württemberg ist erzkonservativ.“

Zurücklehnen und auf Veränderung warten ist ihre Sache nicht: Havva Engin pusht. Fotos: Joachim E. Röttgers

Von Susanne Stiefel

Frau Engin, Sie könnten‘s auch ein bisschen bequemer haben. Stattdessen sitzen Sie in Expertenkommissionen, bei Integrationsgipfeln, lehren, forschen und werben für transkulturelle Bildung.

Ich will‘s nicht bequem haben. Ich will auch nicht nur kritisieren und mich dann zurücklehnen und abwarten, ich möchte Teil der Veränderung der Bildungslandschaft in Richtung Diversität sein. Denn dies ist notwendig für diese unsere Gesellschaft. Deutschland tut sich schwer mit Migration und Fluchtgeschichten.

Haben Sie deshalb Deutsch und Biologie auf Lehramt studiert und nicht die typischen Aufsteigerberufe Medizin oder Jura?

Tatsächlich wollte ich Medizin studieren, wie es sich als Aufsteigerkind gehört. Die Wartezeit wollte ich mit Biologie überbrücken und bin dank einer etwas irreführenden Beratung für ausländische Studierende ins Lehramt gerutscht. Ich war erst geknickt, mein Vater sagte, toll. Und wenn du ein zweites Fach brauchst, nimm Deutsch, damit kommst du überall hin. Ich bin bei der Pädagogik geblieben. Ich will von der Gegenwart die Zukunft bauen. Wir sind längst eine diverse Gesellschaft, aber die Diskurse bilden eher die Gesellschaft der Vergangenheit ab. Kinder werden adressiert als „Migranten“ oder „Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache“ oder „Flüchtlingskind“. Manche leben bereits in der dritten Generation hier und werden immer noch in diese Schublade gesteckt.

Zunächst ist das nur ein Begriff. Was bringt die transkulturelle Expertin darüber so auf die Palme?

Das muss man sich mal vorstellen: Da werden Menschen in Kategorien gepackt, ohne sie zu fragen, ob sie diese annehmen. Seit 2005 gilt für Migrant:innen die Definition des Statistischen Bundesamt: „Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde und bei der Einreise nach Deutschland nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügte.“ Seitdem sind fast 20 Jahre vergangen und wir haben inzwischen viele Kinder der dritten Generation, deren Eltern hier geboren und aufgewachsen sind. Seien wir doch ehrlich: Wann immer in Deutschland über Migrant:innen oder Geflüchtete gesprochen wird, ist das – noch zu häufig – defizitorientiert. Das macht was mit den Menschen.

Lassen Sie uns über ein konkretes Beispiel reden, das hier im Land für heftige Diskussionen gesorgt hat. In Altbach bei Esslingen warf ein junger Mann, mutmaßlich iranischer Herkunft, eine Handgranate in eine Gruppe männlicher Jugendlicher mit Migrationshintergrund. Kontext hat sich damit beschäftigt und gefragt: Was sind die Gründe für diese toxische Männlichkeit gerade im migrantischen Umfeld?

Ich bin keine Expertin für Geschlechtertypologien. Aber egal ob sie Vitali, Kevin oder Ali heißen, diese jungen Männer sind grundsätzlicheine Herausforderung, unabhängig von Religionoder Ethnie. Da muss man sich nur die Statistikanschauen. Während der Anteil von Jugendlichenbeziehungsweise Heranwachsenden (14 bis 21 Jahre) an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2020 bei 6,6 Prozent lag, betrug ihr Anteil bei den Tatverdächtigen 16,7 Prozent. Studien zeigen,dass Körperverletzungstaten in vier von fünf Fällen von Männern begangen werden. Sovielzum Grundsätzlichen. Wir müssen uns jedoch fragen, wie ist die Erziehungsfolie dieser Jugendlichen?Warum wirft da einer eine Granate in eine Trauergemeinde, woher kommt diese Notwendigkeit, sich so zu exponieren?

Das klingt mir zu pädagogisch-verständnisvoll für eine Tat, die Tote hätte fordern können.

Das hat nichts mit Verständnis für die Tat zu tun. Was wir durch jahrelange Forschung wissen: Es gibt nicht die Migrationsfamilie. Und nicht die muslimische Familie. Ja, es hat etwas mit Religion zu tun, aber das ist nicht der Hauptfaktor.

Was dann?

Es sind Transformationsprozesse. Ich vermute, ein Teil der jungen Männer von Altbach wird in der zweiten, eher dritten Generation hier in Deutschland sein. Sie werden ihre Erfahrungen gemacht haben mit Ankommen und Anerkennung. Vieles spielt da mit rein. Wie sah die Schulbildung aus? Ist die Familie bildungsaffin? Zu welcher Schicht gehören sie? Und natürlich hat es auch damit zu tun, wie Eltern ihre Kinder erziehen. In meiner Arbeit rede ich viel mit Müttern, die sind es übrigens, die übersteigerte Männlichkeitserwartungen an ihre Söhne herantragen. Manche kommen aus sehrtraditionellen Strukturen in eine Wissens- undBildungsgesellschaft, wo die Geschlechterrollen fluide geworden sind und übersteigerte Männlichkeit keinen Platz mehr hat.

Oft ist ja ein Argument, dass es keine Vorbilder gibt, keine Sichtbarkeit migrantischer Menschen im öffentlichen Leben. Jetzt haben wir in Baden-Württemberg mit Landtagspräsidentin Muhterem Aras und Finanzminister Danyal Bayaz zwei Beispiele großer Sichtbarkeit.

Die sind für Jugendliche doch ganz weit weg.Was wir brauchen, sind Pädagog:innen. Der Anteil der Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte liegt deutschlandweit bei zehn Prozent. Bei den Referendar:innen bei 20 Prozent. Das ist viel zu wenig. In Baden-Württemberg liegt der Anteil der Schüler:innen mit Zuwanderungsgeschichte in der Grundschule bei 50,6 Prozent. Menschen mit meiner Biografie geben eine Folie ab, damit diese Jugendlichen reflektieren können, was man erreichen kann, aber auch über ihre „Opferrolle“ nachdenken. Denn die ist bequem, aber nicht zielführend. Wer einmal drin ist, kommt schwer wieder raus, denn schuld sind ja immer die anderen.

Und wie kann man sie aus dieser bequemen Position rausholen?

Ein Beispiel: Ein Imam hatte mich angerufen und gefragt, ob ich seine Gemeinde beraten könnte. Es war rappelvoll. Eine religiöse Mutter beklagte sich bitterlich über Diskriminierung ihres Sohnes. Ich sagte: Sie sind die Lobby ihres Kindes. Wie heißt die Klassenlehrerin? Wie ist der Name der Schule? Wann waren Sie zuletzt auf einem Elternabend? Was viele Eltern nicht verstehen, gerade wenn sie als Heiratsmigrant:innen gekommen sind und mit einem anderen Bildungssystem aufwuchsen: Auch hier gibt es konkrete Erwartungen an die Eltern, bereits im Kindergarten, später in der Schule. Aber keiner sagt ihnen das. Und um den Kreis zu den jungen Männern von Altbach zu schließen: Es braucht Rahmenbedingungen in der Schule und übrigens auch schon im Kindergarten, dassdie Kinder und Jugendlichen Selbstwirksamkeiterleben. Dazu gehört insbesondere die Beratung und Unterstützung der Eltern.

Kann die Schule wirklich richten, was über Jahre bei der Integration falsch gemacht wurde, weil lange so getan wurde, als wäre Deutschland kein Einwanderungsland? Heißt das Heilmittel wirklich transkulturelle Bildung? Ist nicht vielmehr die prekäre Situation eine Ursache?

Wir sind ein Einwanderungsland und wir haben uns jahrzehntelang geweigert, das zu sehen.

Ich habe mal eine Tabelle gemacht, was ichalles schon an gesellschaftlichen Zuschreibungen hatte in Deutschland, obwohl sich mein rechtlicher Status nur einmal geändert hat, von dertürkischen Staatsbürgerin wurde ich Mitte der90er-Jahre zur deutschen Staatsbürgerin.Zuerst war ich „Gastarbeiterkind“, dann „ausländischeSchülerin“, dann „ausländische Mitbürgerin“,dann „Bildungsinländerin“, dann „Deutsch-Türkin“, dann „Deutsche mit Migrationshintergrund“. Jetzt bin ich „Nachkomme vonEinwander:innen“. Das zeigt die Sprach- undHilflosigkeit der Gesellschaft gegenüber Zugewanderten.

Erleben Sie diese Kategorisierungen als Alltagsrassismus, weil sie mit negativen Erwartungen verbunden sind? Sie haben es erwähnt: Migrantisch heißt automatisch problematisch und bildungsarm.

Und das ist falsch. In Heidelberg kann man das am besten sehen. Heidelberg ist die Stadt in Baden-Württemberg, in der das Bildungsniveau der Zugewanderten höher ist als das der Einheimischen. Das liegt an SAP, den Kliniken, der Universität. Heute ist nicht entscheidend in Deutschland, ob ich Migrantenkind bin, sondern aus welcher Familie ich komme.

Da haben Sie alle ertappt, die in die Schublade Migrantenkinder gegriffen und schlechte Schüler:innen erwartet haben. Doch an prekären Verhältnissen kann transkulturelle Bildung wenig ändern.

Havva Engin im Gespräch mit Kontext-Redakteurin Susanne Stiefel.

Wir dürfen die Hälfte der Grundschüler:innen nicht allein lassen. Die Gesellschaft ist hochdivers, Migration ist nur eine von mehreren Ebenen der Diversität, soziale Diversität spielt sicher eine Rolle, auch Diversität in Hinblick auf Geschlecht, auf Bildung, Ethnien, Einkommen, Familienkonstellationen. Das müssen wir in einer transkulturellen Bildung berücksichtigen. Meine Aufgabe als Lehrkraft ist es, einen Blick zu entwickeln, darauf, welche Kriterien von Bedeutung in meiner Klasse sind, und im Hinblick darauf dürfen wir nicht dividieren, sondern müssen ein gutes Angebot für alle machen.

Wie sieht ein gutes transkulturelles Angebot aus?

Hat die Klasse ein niedriges Lernniveau, weil ein Großteil der Schüler:innen eine familiäre Zuwanderungserfahrung hat oder weil die meisten aus einem sozial schwachen, bildungsarmen Umfeld entstammen? Oder beides? Wie muss die pädagogische Antwort darauf idealerweiseaussehen? Das muss man sich fragen. Das entsprechende didaktisch-methodische Handwerkszeug muss daher bereits in der Lehrer:innenbildung verpflichtend vermittelt werden.

Ein Jahr lang haben Sie in Bielefeld gelehrt. Warum kamen Sie zurück nach Baden-Württemberg?

Weil Baden-Württemberg ein erzkonservatives Land ist und hier immer noch dicke Bretter zu bohren sind. Das reizt mich. Einer meinerDauerbrenner ist die Vermittlung der Herkunftssprache. Neben Bayern wird nur inBaden-Württemberg die Herkunftssprache, losgelöst vom schulischen Stundenplan, nachmittags von Kolleg:innen aus dem Ausland unterrichtet, dienicht eingebunden sind ins Kollegium, die nurder Hausmeister kennt, weil er ihnen nachmittags die Tür aufschließt. Die Botschaft ist klar:Eure Muttersprache ist nichts wert. Der Reichtum Baden-Württembergs sind die Köpfe derMenschen, wir sind eine Wissens- beziehungsweise Bildungsgesellschaft. Wir sollten nichtfragen, Migrantenkind oder nicht. Sondern:Welches Potenzial steckt in jedem Menschen,und dazu gehört auch die Sprache. Mehrsprachigkeit ist ein Reichtum. Und wenn dieMenschen sehen, dass sie wichtig sind, dann stehen sie auf und singen!

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen