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GesellschaftSymbol der Armut

Die Armut wächst. Selbst Lebensmittel werden für immer mehr Menschen unerschwinglich. Sichtbar wird die Misere vor allem vor den Türen der Stuttgarter Tafelläden. Dort stehen die Menschen in langen Schlangen, manchmal um den halben Häuserblock.

„Die Mischung hier ist so schön“, sagt Monika Miller, stellvertretende Leiterin des Tafelladens Fellbach. Fotos: Jens Volle

Ein grauer, verregneter Tag im Mai. Bernd Popovicz schlängelt sich mit seinem weißen Sprinter zügig durch den morgendlichen Berufsverkehr in Stuttgart-Wangen. Er hupt, als der schwarze VW vor ihm trotz grüner Ampel nicht losfährt. „Normal bin ich nicht so der Huper“, sagt der 49-jährige gelernte Maurer, der seit Anfang April als Fahrer bei der Schwäbischen Tafel arbeitet. „Aber das muss manchmal sein.“ Popoviczs Schicht hat um sieben Uhr begonnen, jetzt – eineinhalb Stunden später – ist er auf dem Weg zum Tafelladen in Fellbach, der Sprinter voll beladen mit Gemüse vom Großmarkt.

Der Laden in Fellbach ist einer der vier Tafelläden in Stuttgart und Umgebung, neben dem in Bad Cannstatt, in Möhringen und in der Hauptstätter Straße in Stuttgart Mitte. Gespendete Lebensmittel, die eigentlich auf dem Müll landen würden, werden hier für kleines Geld an armutsbetroffene Menschen verkauft. Und davon gibt es viele: Laut Angaben der Tafel sind es allein in Stuttgart und Umgebung 66.000. Die Nachfrage nach günstigen Lebensmitteln ist riesig, seit Beginn des Ukrainekrieges sei sie regelrecht explodiert, sagt Patrick Röhrle, der im Sammellager der Tafel koordiniert, welche Lebensmittel in welchen Laden kommen. „Im Vergleich zum Vorjahr haben wir fast 100 Prozent mehr Kunden.“ Waren es vor zwei Jahren noch täglich 1.000 Kunden, kamen im Sommer 2022 plötzlich 2.000.

Dreieinhalb Stundenwarten im Regen

Nach dem Besuch auf dem Großmarkt hat Popovicz noch einen Abstecher nach Stuttgart-Wangen gemacht, wo im Sammellager Großspenden von Unternehmen gelagert sind. „Einmal Pizza, Pinsa und Eis!“, ruft ein Mitarbeiter vom hinteren Eck. Einer driftet in Höchstgeschwindigkeit mit dem Gabelstapler ums Eck, knapp an Sprinter und Lebensmitteln vorbei. „So geht‘s hier immer zu. Ist halt eine eigene Welt“, kommentiert Röhrle das wirbelige Treiben. Er gehört zu den 18 Festangestellten der knapp 400 Mitarbeitenden des Vereins Schwäbische Tafel Stuttgart e.V.

Palettenweise Orangensaft, Fitnessdrinks und Cola. Zwei riesige Holzkisten mit Äpfeln und Kartoffeln. Und dann kommt schon eine neue Lieferung: dutzende Behälter mit je 20 Stück Weichkäse. Diese immensen Mengen an gelagerten Lebensmitteln sind ein erster Hinweis darauf, wie groß der Bedarf ist.

Der drastische Anstieg an Tafelkunden kam mit den Geflüchteten aus der Ukraine. Inflation und Preissteigerungen führten dazu, dass weniger produziert wurde, im zweiten Schritt kauften die Supermärkte weniger an. Die Folge: weniger übriggebliebene Lebensmittel für die Tafelläden. Heute sei ein guter Tag, sagen die Fahrer. Neben Popoviczs Sprinter werden zwei weitere mit Gemüse vom Großmarkt gefüllt. In den letzten zwei, drei Wochen seien die Tafeln hingegen fast leer ausgegangen. „Saisonbedingte Flaute“, heißt es.

Wo sich Lebenswelten überschneiden

Kurz nach halb neun kommt Popovicz beim Tafelladen in Fellbach an. Zigarettenpause. Während er sich eine anzündet, werden die Lebensmittel von drei kräftigen Männern abgeladen. Das Geschäft öffnet um zehn, bereits jetzt warten etwa 30 Menschen vor der Ladentür. „Die ersten sind schon ab halb sieben da“, erzählt Johannes Jörder, der Fellbacher Ladenleiter. Warum sich diese Menschen jeden Tag dreieinhalb Stunden vor Ladenöffnung in die Schlange stellen – an diesem Tag im Regen – wird klar, sobald man die Menge an Lebensmitteln im Inneren des Ladens sieht. „Das ist ein Witz“, sagt Jörder. Für die erwarteten 500 Menschen wird das Vorhandene nicht ansatzweise reichen. Der Laden ist bis 15 Uhr geöffnet, „spätestens um halb zwölf ist vom Gemüse nichts mehr da“.

Im Hinterraum warten etwa 20 Mitarbeitende auf die Lieferung. Auf einem drei Meter langen Holztisch beginnt die Sortiererei: Schlechtes Gemüse und Obst kommt in die schwarzen Eimer, Biomüll. Zwei Frauen lehnen am Tisch, die eine Italienerin, die andere aus dem Irak. Gut gelaunt erzählen sie von ihren Kindern und ihrer Heimat. Und davon, wie ihnen zuhause – als langjährige Hausfrauen – beinahe die Decke auf den Kopf gefallen wäre.

„Das Leben ist schwer“, resümiert Maria Ruggiro. Die Italienerin arbeitet seit zwei Monaten hier und gehört wie der Fahrer Popovicz zu den etwa 120 Mitarbeitenden, die über Maßnahmen des Jobcenters bei der Tafel gelandet sind. Neben ihnen gibt es einige Bufdis, etwa 30 Mitarbeitende, die bei der Tafel Arbeit statt einer Strafe leisten, und mehr als 150 Ehrenamtliche. Maria Ruggiro ist froh über das verdiente Geld, aber das sei schlussendlich nicht das Wichtigste, sagt sie. „Geld kommt und geht.“

Kunde stattAlmosenempfänger

Auch ein 36-jähriger Mann mit dunklem Schnurrbart und krummem Gang hat nach einem Rollerunfall über das Jobcenter bei der Tafel eine Möglichkeit gefunden, wieder arbeiten zu können. „Die Arbeit in der Tafel liegt mir einfach. Hier ist kein Mann mit Peitsche hinter dir her.“ Begegnung auf Augenhöhe, unabhängig vom Hintergrund der Menschen – das ist Monika Miller, der stellvertretenden Ladenleiterin in Fellbach, besonders wichtig. „Die Mischung hier ist so schön. Leute berühren sich, die sich sonst im Leben nie begegnen würden“, sagt sie und erzählt von einer Frau, die einst eine führende Position im Robert-Bosch-Krankenhaus innehatte und nun seit ihrem Ruhestand – seit 15 Jahren – jeden Montag vier Stunden ehrenamtlich bei der Tafel mithilft. Daneben gebe es den jungen Drogenabhängigen mit nur noch drei Zähnen im Mund. „Die Lebensumstände könnten unterschiedlicher nicht sein, hier aber überschneiden sich die beiden Leben.“

Ruggiro blickt auf die Uhr: halb zehn. „Dann geh ma‘ einkaufen“, sagt sie zu ihrer Kollegin. Eine Viertelstunde haben die Mitarbeitenden Zeit für eigene Besorgungen im Tafelladen. 50 Cent für einen Beutel Brötchen, 30 für ein Stück Kuchen, 2,50 Euro für einen Tiefkühl-Flammkuchen, Wirsing gibt es für unschlagbare zehn Cent. Die Waren kosten etwa ein Fünftel bis ein Siebtel so viel wie im Discounter.

Die Ladenidee ist eine Besonderheit der Schwäbischen Tafel: Der bedürftige Mensch ist Kunde und nicht Almosenempfänger:in, und die selbst gekaufte Ware ist noch etwas wert – viele andere Tafeln in Deutschland verteilen die Waren kostenlos. Diese Idee geht auf den Diakoniepfarrer Martin Friz zurück, auf dessen Initiative der gemeinnützige und mildtätige Verein Schwäbische Tafel Stuttgart e.V. im Jahr 1995 gegründet wurde. Und obwohl die Preise niedrig sind, tragen sie einen Teil zur Finanzierung des Vereins bei. Der andere – weitaus größere – sind Spenden von Privatpersonen, Unternehmen und Stiftungen.

Durch die gestiegenen Energiekosten sei die Finanzierungslücke größer geworden, erklärt Hilli Pressel, die stellvertretende Projektleiterin: „Wir können diese höheren Kosten nicht an den Endverbraucher weitergeben, das würde in diesem Modell absolut keinen Sinn machen.“ Aber die langen Schlangen vor den Läden bleiben nicht unsichtbar, „sie sind zum Symbol der Armut geworden“, sagt Pressel. Und sie ziehen die Aufmerksamkeit der Bevölkerung und der Medien auf sich. Das begünstige die Spendenbereitschaft.

Mit Würde und Tafelausweis

Bernd Popovicz ist inzwischen längst wieder unterwegs, zwei bis drei Touren macht er täglich und holt so gemeinsam mit seinen Kolleg:innen bis zu 40 Tonnen Lebensmittel ab. Währenddessen ist es in Fellbach für die geduldig wartenden Kunden endlich soweit: Kurz nach zehn, das rote Absperrband wird entfernt und eine 50-köpfige Menschenmenge stürmt in den Laden, bestückt mit schwarzen Eimern für den Einkauf. Eilig stecken die Kund:innen Lebensmittel ein – wer zuerst kommt, mahlt zuerst. „Nur einmal Tomate bitte, junge Männer!“, ruft Natalia Erdmann, eine temperamentvolle Frau, die von der Tafel-Kundin zur freiwilligen Helferin wurde, weil sie russisch kann. Für Obst und Gemüse ist die pro-Kopf-Menge begrenzt. Hastig nimmt sie die Packung Tomaten aus dem Eimer des einen und legt sie in den eines anderen Kunden. Der Eimer eines Mannes in Daunenmantel und schwarzer Mütze ist nach kurzer Zeit so schwer, dass er ihn mit dem Fuß durch den Laden schiebt.

Tomaten, Bananen, ein paar Kisten Äpfel, sechs Orangen, fünf Auberginen und drei Avocados gibt es an diesem Tag im Laden zu kaufen. Und besonders viele Gurken. Was fehlt, ist die Vielfalt. „Die Kunden sollen nicht mit dem Wunsch zu uns kommen, die gesamte Einkaufsliste abzuarbeiten“, sagt Monika Miller. Deshalb gebe es immer wieder Redebedarf. „Manche vergessen, dass wir nur Zubrot sind und nicht Vollversorger.“ In erster Linie fehle es an haltbaren Dingen wie Mehl und Zucker, aber auch Eier und Milch sowie Hygieneartikel landen selten in den Tafelläden.

Fast alles weg – warten auf die nächste Lieferung.

Kurz vor halb elf sind bereits viele Gemüsekörbe leer und die Brottheke nur noch zu einem Drittel gefüllt. Die Mitarbeitenden sortieren eine neue Lieferung ein, während die nächste Runde Kundschaft hinter dem Absperrungsband wartet. In ihrem kleinen Büro neben dem Sortierraum stellt Monika Miller gerade einen Tafelausweis aus. Der ist Voraussetzung, um hier einkaufen zu dürfen. Ob jemand hilfebedürftig ist, prüft das Jobcenter automatisch. Alternativ können Menschen mit zu geringem Einkommen direkt bei der Tafel Kontoauszüge abgeben, um den Tafelausweis zu erlangen. „Das kann die alleinerziehende Friseurin mit zwei Kindern sein, Hartz-IV-Empfänger, Asylbewerber, Leute, die während Corona pleite gegangen sind, aber auch Studenten.“ Doch diejenigen, die das Angebot nutzen, seien bei weitem nicht alle, denen es zustehen würde, meint Miller. „Für viele Menschen ist es eine Hürde, den Tafelausweis zu beantragen. Sie wollen nicht, dass sie der Nachbar in der Schlange warten sieht.“ Umso wichtiger sei es, diese Stigmatisierung zu überwinden, „auch wenn man bedürftig ist, darf man ja trotzdem seine Würde bewahren“.

Im Laden geht das geschäftige Treiben indes weiter. Zwischen all den Dingen, die der Mensch zum Leben braucht, steht auf einem Stapel Kisten unscheinbar ein Eimer mit drei aus Tulpen gebundenen Blumensträußen. Trotz Hektik bleibt der Blick eines älteren Herrn auf den Blumen hängen. Schnell nimmt er einen Strauß und legt ihn in seinen Korb. „Für meine Frau“, sagt er auf ukrainisch. Dann huscht er weiter, um sich eine der begehrten Brottüten zu sichern.

Draußen kommt Bernd Popovicz mit einer weiteren Lebensmittellieferung beim Laden an. Der Ablauf beginnt von vorne: abladen, aussortieren, einräumen. Und Popovicz freut sich auf seine Zigarettenpause.

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