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Geschichte in Geschichten

■ Dickens „Weihnachtslied“ in den Illustrationen Roberto Innocentis

Dickens Christmas Carrol, eine moralistische Anklage gegen Selbstsucht, Geldgier und Unmenschlichkeit, ist ein typisches Produkt des 19.Jahrhunderts. Der Illustrator Innocenti, skrupulöser Verfechter werktreuer Darstellungen, liebt keine forcierten Interpretationen. Sein Ziel ist es, die Geschichte in der Geschichte lebendig werden zu lassen, die Geschichte der Bekehrung eines hartherzigen Geizkragens zu einem wohltätigen alten Herrn, eingebettet in den historischen Hintergrund des Englands der frühen Industrialisierung. Sein Mittel ist die absolute Perfektion in der Schilderung der Details und eine bewundernswert dichte Atmosphäre, diesmal noch finsterer und desolater als in seinem Buch Rosa-Weiß.

Die Geschichte in der Geschichte läßt Innocenti durch unzählige eigene, kleine Geschichten lebendig werden. Er animiert ganze Straßenzüge bis in den kleinsten Winkel hinein, mit Brueghelscher Opulenz bevölkert er seine Szenen mit Marroniverkäufern, Bettlern, Straßenmusikanten, Marktweibern und Kindern, sogar hinter den Fenstern ahnen wir weitere Kapitel eines Dickensschen Romans.

Diese Illustrationen stehen in der Tradition des langen Betrachtens, eine Fähigkeit, die den Kindern der „Mediengesellschaft“ immer abgesprochen wurde. Aber hier lohnt es sich ohne Frage. Massenszenen wechseln ab mit ruhigen, konzentrierten Bildern, die das „innere“ Geschehen von dem „äußeren“ abgrenzen. Innocentis Fähigkeit, eine spannungsreiche Bilddramaturgie zu schaffen, vermißt man bei anderen Bilderbuchkünstlern noch häufiger als zeichnerische Qualifikation.

Sein Hang zum Gesamtkunstwerk ist evident — sogar die Textseiten sind — außer mit einer zarten Umrandung und einem leichten, farbigen Verlauf — in jedem Kapitel mit einem anderen Weihnachtssymbol geschmückt. Unglückselig ist die Wahl einer Display-Schrift, die sich bestenfalls für Reklame-Headlines eignet.

Leider ist der reine Genuß des Buches durch eine mit Anglizismen gespickte Übersetzung getrübt. Und auch Innocentis unbetrittene Meisterschaft hat eine Achillesferse: Die Gesichter der Menschen. Sind sie bewußt so maskenhaft gezeichnet? In dieser Geschichte ist es lediglich Scrooge, in dessen Mimik Angst und — am Schluß — Freude auszumachen sind. Offenbar bringt Innocenti den Geistern mehr Sympathie entgegen als den Menschen. Kongenial zu Dickens sind seine Geister keine billigen Gespenster aus dem Horrorkabinett, sie spiegeln viel vom englischen Humor wider, der den Florentiner Innocenti mit dem Engländer Dickens verbindet.

Der letzte Geist, der Scrooge auf dem Wege zur Erkentnis begleitet, ist nur von hinten zu sehen — ein geschickter Kunstgriff, um Klischees von vornherein zu vermeiden. Diese Bilder, in denen Scrooge allein ist mit sich, der Finsternis und dem Geist, gehören zu dem eindrucksvollsten, was ich seit langer Zeit in einem illustrierten Buch gesehen habe. Trotz der Mängel: eins der schönsten Weihnachtsbücher seit Jahren. Inge Sauer

Charles Dickens/Roberto Innocenti (Illustrationen): Ein Weihnachtslied , aus dem Englischen von Margit Meyer, Sauerländer Verlag 1990, 152 Seiten, ab drei Jahre, 48 DM.

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