Geschichte des toten Flüchtlingskindes: Eine ganz normale Familie
Das Bild des ertrunkenen Kindes Alan Kurdi löste 2015 weltweit Bestürzung aus. Tima Kurdi erzählt nun die Geschichte hinter dem Bild.
Als das Foto seines Sohnes, der im knallroten T-Shirt und in kurzen Hosen wie schlafend im Sand liegt, im September 2015 um die Welt geht, hofft sein Vater Abdullah, dies würde ein Signal sein: ein Weckruf. Mit dieser Hoffnung war er damals nicht allein. Das Foto des ertrunkenen Jungen ist zwar inzwischen ikonisch geworden, am Elend der Welt aber hat sich nichts geändert.
Der kleine syrische Junge hieß Alan Kurdi, und er wollte mit seinen Eltern und seinem Bruder nach Europa fliehen. Ein zu kleines, zu volles Boot und zu hohe Wellen ließen das nicht zu. Es ist eine furchtbare Geschichte und eine exemplarische.
Tima Kurdi: „Der Junge am Strand“. Aus dem Englischen von Lilian-Astrid Geese. Verlag Assoziation A, Hamburg/Berlin 2020, 247 Seiten, 19,80 Euro
Die Tante des Jungen, Tima Kurdi, hat sich dazu entschlossen, sie zu erzählen: „Die Familie, in die ich hineinwuchs, war eine ganz normale Mittelschichtfamilie. Wir lebten wie viele andere. Wir waren nicht reich, doch wir litten keinen Hunger.“
Tima Kurdi wächst mit fünf Geschwistern in Damaskus auf, und wenn sie von dieser Zeit erzählt, fühlt man sich an den sehnenden Ton des syrischen Schriftstellers Rafik Schami erinnert. Kurdi beschreibt das Leben in den 1970er und 1980er Jahren als multireligiöse und -kulturelle Idylle, in der man in Syrien Zuckerfest, Weihnachten und wilde Partys feiert. Orientalisches Laisser-faire.
Der einsetzende Bürgerkrieg
Dennoch emigriert Tima Kurdi Anfang der 1990er Jahre nach Kanada. Von dort aus beobachtet sie, wie sich ihre Heimat im 2011 einsetzenden Bürgerkrieg verändert. „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“ heißt ein Büchlein der Autorin Janne Teller.
Ganz ähnlich argumentiert Tima Kurdi: „Stellen Sie sich vor, dass sich Ihre Stadt plötzlich in eine Todeszone verwandelt. Stellen Sie sich vor, Sie hätten Angst, Ihre Kinder in die Schule zu schicken. Angst, zur Arbeit zu fahren und zurück nach Hause. Angst, die einfachsten Dinge zu erledigen. Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn Ihre freundlichen Nachbarn plötzlich zu Feinden würden.“
Details der politischen Verwicklungen bleiben in diesem Buch merkwürdig außen vor, es scheint, als wolle Tima Kurdi nicht Stellung beziehen. Der Name Assad fällt, wenn ich mich nicht irre, kein einziges Mal.
Lieber konzentriert sie sich auf das Leid der Flüchtenden, die haltlosen Zustände, die zum Heulen sind. Ihre Geschwister fliehen vor den Bombardements und vor den Kämpfern des „Islamischen Staates“ in die Türkei, leben von der Hand in den Mund und wissen nicht, wohin. Ihre Schwester versucht derweil alles Menschenmögliche, um sie zu sich nach Kanada zu holen, doch die Mühlen der Bürokratie mahlen zäh. Aber es gibt Lichtblicke: wenn Menschen Mitleid haben und sich erbarmen. Die Schleuser indes machen nur ihren Job.
Wiederholte Fluchtversuche
Wiederholt versucht Timas Bruder Abdullah, mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Söhnen das Meer zu überqueren, um nach Griechenland zu kommen. Die Schilderung dieser Flucht liest sich zuweilen so atemberaubend wie ein Thriller. Die Spannung steigt auch dadurch, dass es keiner ist.
Vieles hat Kurdi recherchiert, ihren Bruder, den einzigen Überlebenden des Fluchtversuchs, oft gelöchert, anderes überlässt sie ihrer Fantasie.
Wie nicht anders zu erwarten, ist „Der Junge am Strand“ ein erschütterndes Buch geworden. Es erzählt davon, was passiert, wenn man die Würde des Menschen missachtet. Seine schockhafte Wirkung rührt auch von den vielen Fotos her, die es beinhaltet: niedliche Kinderbilder und Ansichten einer sympathischen syrischen Familie.
Tima Kurdi ergänzt die täglichen Zeitungsmeldungen mit ihrer individuellen Geschichte, gibt dem Strom der Flüchtenden ein Gesicht. Verlorengegangene Pässe erweisen sich bei ihr als schicksalhafter Verlust, Familiennachzug als ein Menschenrecht.
Ihr soghaftes Buch ist ein Plädoyer für den Flüchtlingsschutz. Ein Weckruf, der ebenso verhallen könnte wie die Schockwellen, die das Foto des Jungen einst auslöste.
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