: Gesamtschule: Bildungskonzept für eine solidarische Gesellschaft
■ Bundeskongreß der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule in Moers / DGB plant bildungspolitische Offensive „ohne Rücksicht auf Parteien und Regierungen“ / Ein Aktionsbündnis gegen den Kulturkampf der Konservativen
Aus Moers Jürgen Dörmann
Frischer bildungspolitischer Wind wehte durch die Räume der Gesamtschule in Moers, in der Ende Mai der dreitägige Bundeskongreß der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule (GGG) tagte. Gleich zu Beginn kündigte der Deutsche Gewerkschaftsbund eine bildungspolitische Offensive für die integrierte Gesamtschule, die das dreigliedrige Schulsystem ersetzen soll, an. Und ausgerechnet Gustav Fehrenbach, stellvertretender DGB– Chef und Mitglied der CDU, machte unmißverständlich deutlich, daß es für den DGB „ohne Rücksicht auf Parteien und Regierungen“ keine Alternative zur Gesamtschule gebe. Hocherfreut griff denn auch die GGG–Bundesvorsitzende Christa Lohmann dieses Bündnisangebot auf: „GGG und DGB werden in einer gemeinsamen Erklärung für neue Bündnisse zur Durchsetzung integrierter Gesamtschulen in den Ländern werben.“ Die Impulse des Kongresses unter dem Motto: „Bildung für eine solidarische Gesellschaft - Gesamtschule“ sollten genutzt werden, um ein „bildungspolitisches Bündnis des Fortschritts“ (Christa Lohmann) zusammenzuschweißen, das den konservativen Entsolidarisierungs– und Konkurrenzkonzepten im Bildungsbereich und in der Gesellschaft insgesamt eine neue Offensive gegenüberstellen müßte. Widerstand leisten? Die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Imma Hillerich, erwartet nach dem GGG–Kongreß angesichts solcher Positionen, daß sich die fortschrittlichen grün–roten und unabhängigen Bildungspolitiker hinter den DGB–Positionen formieren und gemeinsame Durchsetzungskonzepte für integrierte, wohnortnahe Gesamtschulen entwickeln: „Eltern–, Schüler– und Stadtteilarbeit, Verankerung der Gesamtschulkonzeption an der Basis also, sind hierfür wesentliche Voraussetzungen.“ DGB–Chef Fehrenbach kritisierte den konservativen Kurs der Bildungspolitiker in den meisten Bundesländern: Ein demokratisches Bildungssystem werde dort mehrheitlich abgelehnt. Forderungen, wie die nach Elitebildung, müsse eine deutliche Absage erteilt werden. Wo konservative Politiker integrierte Systeme abschaffen wollten, gelte es Widerstand zu leisten: „Bildung im Sinne des Preußischen Dreiklassensystems ist überholt“, monierte er und kritisierte in diesem Zusammenhang auch die zögerlichen Reformen sozialdemokratischer Bildungspolitiker. Außerdem, so Fehrenbach weiter, sei für die Gewerkschaften die Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung in die Sekundarstufe II die richtige Fortsetzung der Gesamtschule. Von daher sei auch der Kollegschulversuch in NRW - das bisher weitgehendste und zukunftsweisendste Konzept für die Reform der Sekundarstufe II - auszuweiten und vom Rechtsstatus des Schulversuchs in das Regelschulangebot zu überführen. Pfiffe der Kongreßteilnehmer erntete der nordrhein–westfälische Kultusminister Hans Schwier (SPD), als er der Gesamtschule „als einziger Schulform“ eine Absage erteilte und gar Bedrohungspotentiale bei denen ausmachte, die in NRW die Gesetze ändern wollten, um Gesamtschulen als ersetzendes System durchzudrücken. „Manchmal hab ich den Eindruck“, so der SPD–Minister, „daß man die Gesamtschule vor ihren radikalen Befürwortern in Schutz nehmen muß.“ Damit meine er hoffentlich nicht die verschiedenen Initiativen zur Einrichtung von Gesamtschulen im Land, konterte Rainer Herholz, der eine Petition für die Elterninitiative in Essen übergab und den Kultusminister aufforderte, „für die Einrichtung der vierten Gesamtschule in Essen zu sorgen und die Lokal–SPD entsprechend anzuweisen. Über 200 Zurückweisungen hat es gegeben!“ Der in NRW für die Einrichtung von Gesamtschulen ausschlaggebende Elternwille bestimmt als gesetzliche Vorgabe, daß bei 112 Anmeldungen eine Gesamtschule gegründet werden muß. In Oberhausen haben 112 Kinder an den beiden bestehenden Gesamtschulen keinen Platz gefunden, doch die dritte Schule wäre damit keinesfalls sofort eingerichtet. „Der Schulentwicklungsplan sieht die neue Gesamtschule erst für 1989 vor“, bemängelte Gisela Poeplau, Mutter aus Oberhausen, „einfach unmöglich, daß bis dahin trotz Elternwillen nichts passiert!“ Kritik am Leistungsbegriff Offentsichtlich habe die Linke in der SPD in der Bildungspolitik nichts mehr zu sagen, kommentierte Hans–Jürgen Kuhn von der Alternativen Liste Berlin die Rede des NRW–Kultusministers. Gustav Fehrenbach habe dagegen klar gemacht, daß der DGB hier kompensatorisch wirken könne. „An dieser Stelle sind Grüne gefordert, das Angebot zu nutzen und Anknüpfungen an den DGB und die fortschrittlichen Kräfte in der SPD zu leisten. Die vernichtende Kritik des DGB am bestehenden Bildungssystem ist eine neue Qualität; massive Kooperation muß die Durchsetzungschancen für die von Fehrenbach aufgezeigten Positionen verbessern helfen.“ Infrage gestellt wurde im weiteren Verlauf der Diskussion auch der Leistungsbegriff, der dem dreigliedrigen Schulsystem zugrunde liegt. Vertreter/innen der GGG und Bildungsfachfrauen/ männer von den Grünen waren sich darin einig, daß die Schule nicht Zulieferer für die Ellbogengesellschaft sein dürfe. Inge Wettig–Danielmeyer aus dem SPD– Parteivorstand gab zu, daß die SPD den von ihr für das Bildungssystem deklarierten Leistungsbegriff überdenken und verändern müsse: „Wir haben in Pädagogik und Politik einen Konkurrenzleistungsbegriff akzeptiert und haben es versäumt, uns hinreichend mit diesem Begriff auseinanderzusetzen.“ Ulf Preuß–Lausitz, Sozialwissenschaftler aus Bremen, erteilte dem mechanistischen Zugang zum Leistungsbegriff eine klare Absage: „Es ist doch einfach Quatsch, nur Meßbares als Leistung anzuerkennen, darauf sind Menschen nicht reduzierbar. Wir müssen versuchen, den Kulturkampf, den CDU und FDP offensiv und reaktionär führen, offensiv durch Gewerkschaften und Grün–Rot zu kontern.“ D O K U M E N T A T I O N „Die Grundrechte stehen zur Disposition“
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