Gericht sieht Verfassungsverstoß: Finanzhof rügt Kürzung bei Pendlern
Das oberste Steuergericht hält die Kürzung der Pendlerpauschale für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Der Finanzministerium will vorerst dennoch daran festhalten.
BERLIN Auch Heino Hambrecht, der Betroffene selbst, reihte sich am Mittwoch ein in die Reihe der Gratulanten: "Es ist ein guter Tag für die Pendler!" Der Bäckermeister aus dem Badischen ist einer von zwei Steuerzahlern, die gegen die gekappte Pendlerpauschale geklagt und gestern zumindest vor dem in München ansässigen Bundesfinanzhof (BFH) Recht bekommen haben. Allerdings ist die endgültige Entscheidung an das Bundesverfassungsgericht verwiesen worden.
Hintergrund der Klagen ist die Neuregelung der Pendlerpauschale: Seit dem 1. Januar 2007 werden die Fahrkosten zwischen Arbeitsplatz und Wohnung nicht mehr als Werbungskosten anerkannt, sondern als Teil der Privatsphäre definiert. Als Werbekosten gelten nur Strecken über zwanzig Kilometer.
Bäcker Hambrecht fährt täglich von seiner Heimatstadt Ravenstein 70 Kilometer zu seiner Firma nach Freiberg. Wie vielen anderen der 16 Millionen deutschen Berufspendler hat ihm das Finanzamt die Eintragung des Freibetrags auf der Lohnsteuerkarte 2007 gestrichen. Berücksichtigt wurden 50 Kilometer - weshalb Hambrecht 472,16 Euro mehr Steuern zahlen musste.
Gestern nun hat der BFH entschieden, dass diese Ungleichbehandlung zwischen Kurzstrecken- und Langstreckenpendlern ungerechtfertig ist. "Der VI. Senat hält die Regelung für verfassungswidrig", erklärte Bundesfinanzrichter Hans-Joachim Kanzler. Die neue Pendlerpauschale verstoße gegen steuerliche Grundsätze und lasse auch außer Acht, dass Fahrkosten im Sozialhilferecht als einkommensmindernd angesehen werden. Und schließlich verletze die gekappte Pendlerpauschale im Falle beiderseits berufstätiger Ehepartner auch noch das Gebot zum Schutz der Ehe. Wegen der möglichen Grundgesetzverletzungen sind die Fälle jetzt dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt worden. "Wir hoffen, dass unsere Bewertung die Entscheidung des Verfassungsgerichts beeinflusst", meinte Kanzler, "aber natürlich ist das ein selbstständiges Gericht." Bis zu dem höchsten Urteil werden wohl noch einige Monate vergehen, aber das Bundesfinanzministerium sieht keinen Grund, die wankende Regelung auszusetzen, wie ein Ministeriumsvertreter gestern betonte. "Wir haben keinen Plan B! Wieso sollten wir der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorgreifen?" Karl Heinz Däke, Vorsitzender des Steuerzahlerbundes, forderte dagegen eine sofortige Rückkehr zu den alten Regelungen. Auch FDP und die Grünen forderten die Bundesregierung zu sofortigen Änderung am Gesetz auf.
Immerhin: Die steuerzahlenden Pendler können bei einem entsprechenden Entscheid einen Teil ihrer Steuerzahlung zurückfordern. Wichtig ist, die Pendlerpauschale auf der Lohnsteuerkarte einzutragen. Und wer keine vage Vorauszahlung an den Staat leisten will, kann auch jetzt schon gegen die Kurzstrecken-Regelung Widerspruch beim Finanzamt einlegen und bekommt dann auch Wege unter 20 Kilometer "unter Vorbehalt" anerkannt.
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