Gerangel um die Anlauflänge beim Skispringen: Gefährdete Überflieger
Damit das große Feld der Skispringer ansehnliche Sätze machen kann, müssen die Besten ihre Gesundheit aufs Spiel setzen.
Normalerweise haben es die Besten einer Sportart ziemlich leicht. Die Tücken ihres Sports bleiben ihnen verborgen, weil sie mit traumwandlerischer Sicherheit agieren. Im Skispringen aber kann es für die Besten gefährlicher werden als für den Rest. Denn die Landung ist für die Knie nur dann einigermaßen verkraftbar, wenn man im Steilen landet, so dass nicht allzu viel Druck auf den Bändern und Gelenken lastet. Landet man aber erst im bereits flachen Teil des Schanzenaufsprungs, wird der Körper des Springers viel krasser beansprucht, er kann den Sprung dann nicht mehr "stehen", wie es im Fachjargon heißt, was nichts anderes bedeutet, als dass der Springer bei der Landung schlichtweg aufklatscht und zu Boden gerissen wird.
Der Beste zu sein, kann im Skispringen also ganz schön gefährlich sein. Zwei Springer haben dem bisherigen Winter ihren Stempel aufgedrückt: Simon Ammann aus der Schweiz und Gregor Schlierenzauer aus Österreich. Bis zum Start der Vierschanzentournee haben nur diese beiden Weltcupsiege gefeiert, dann funkte in Oberstdorf der Österreicher Andreas Kofler dazwischen, ehe Schlierenzauer wieder das Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen gewann. Ammann segelte in Garmisch-Partenkirchen auf 143,5 Meter - Schanzenrekord. Allein ein ordentlicher Telemark war nicht mehr drin bei den Kräften, die bei der Landung auf den schmalen Körper des Springers wirkten. Ammann wurde Dritter.
Ammann und Schlierenzauer hatten vor allem beim Weltcup in Lillehammer im Dezember demonstriert, wie weit sie der Konkurrenz enteilt sind - und wie gefährlich das für sie selbst ist. Ammann sprang bei wechselnden Windböen 146 Meter weit - eine solche Weite ist auf einer durchschnittlich großen Schanze wie Lillehammer eigentlich gar nicht mehr vorgesehen und lag schon drei Meter über dem Schanzenrekord. Noch heftiger wurde es bei Schlierenzauer - er landete bei 150,5 Meter und stürzte. Nur mit einer großen Portion Glück und mit der Geschicklichkeit eines hellwachen Athleten konnte er eine schlimme Verletzung verhindern. Den Sturz hatte er bewusst inkauf genommen, "sonst hätten meine Bänder das nicht ausgehalten", schilderte er hinterher.
Toni Innauer, der Skisprung-Sportdirektor der Österreicher und einer der intimsten und klügsten Kenner des Schanzensports, meldete sich mit einem offenen Brief zu Wort, in dem er den Weltskiverband FIS und die Wettkampfjury heftig kritisierte. Die Gesundheit einzelner Sportler werde immer öfter aufs Spiel gesetzt, schrieb Innauer. Den in einer grandiosen Form springenden Schlierenzauer in Lillehammer von der Schanze zu lassen, sei eine "generelle Fehleinschätzung" der Leistungsfähigkeit eines Sportlers. "Für die Besten ist das Risiko am größten", sagt Ammann.
Was also tun? Wenn die Jury die Anlauflänge - je höher die Geschwindigkeit im Anlauf, desto weiter geht der Sprung - so verkürzt, dass auch die Ammanns und Schlierenzauers noch sicher landen können, wird ein guter Teil des übrigen Teilnehmerfelds nicht auf Weitenjagd gehen können, sondern irgendwo im Nirgendwo landen. Im Extremfall wäre ein Wettkampf so lange langweilig, bis die Besten antreten. Die FIS hat bereits eine mögliche Regeländerung in petto - mittels einer hochkomplizierten mathematischen Formel könnte Anlauflänge und Wind bei der Punkteberechnung berücksichtigt werden. Eine Änderung der Anlauflänge wäre also auch mitten im Wettkampf möglich, es wird dann eben eine andere Anlauflänge bei der Berechnung der Gesamtpunktzahl berücksichtigt. Bei den Sommerwettkämpfen ist das neue Regelwerk erprobt worden, grundsätzlich sind sich die Protagonisten einig, dass damit zwar ein wenig mehr Fairness entsteht - aber "man muss sich fragen, ob das für den Zuschauer dann noch nachvollziehbar ist", gibt Deutschlands Trainer Werner Schuster zu bedenken. Es werde dann nicht immer der gewinnen, der am weitesten springt und die besten Haltungsnoten gesammelt hat, sondern der, den der Computer als Besten ausspuckt.
Schlierenzauer fühlte sich nach Lillehammer bestraft für seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und im Stich gelassen von der Jury, die für die Anlauflänge verantwortlich ist. "Soll ich wohl die Anlaufluke selbst wählen?", fragte Schlierenzauer. Dies, so assistierte sein Teamkollege Wolfgang Loitzl, sei weder Aufgabe des Sportlers noch des Trainers. Man müsse sich doch auf die Jury verlassen können, wenn man allein oben sitzt und auf das Startsignal wartet. In diesen Momenten wirken sie tatsächlich schutzlos, diese tollkühnen Burschen, die scheinbar furchtlos durch die Luft segeln, aber ihre Gesundheit riskieren - wenn die Schanzen eigentlich zu klein sind für ihr Leistungsvermögen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen