: Geplauder und zwei Tote
■ Arthur Schnitzlers „Das weite Land“ in der Inszenierung von Jürgen Flimm am Thalia-Theater
Selbstmord verübt wird bei Schnitzler vor dem Anfang des Stücks. Liebesabenteuer werden zwischen den Akten beendet oder angefangen. Und wenn sich zwei Figuren duellieren, so tun sie es irgendwo, aber bestimmt nicht vor den Augen der Theaterzuschauer. Die Handlungen und die Leidenschaften, all das, was klassischerweise unbedingt ins Theater gehört, hat Arthur Schnitzler in seinem 1911 uraufgeführten Stück Das weite Land von der Bühne verbannt. Was dafür auf der Bühne passiert: Nun, man redet. Eine Tragikomödie, so hat Schnitzler das Stück untertitelt, und die Gewichte innerhalb dieses Selbstwiderspruchs hat er eindeutig verteilt: Halb ist Das weite Land eine Konversationskomödie, zur zweiten Hälfte aber finden zwischen den Konversationen Tragödien statt.
Geplänkel und Geplauder. Gesellschaftsspiele und zu Beginn ein, am Ende zwei Tote. Am vergangenen Sonnabend feierte das Stück in der Inszenierung Jürgen Flimms am Thalia-Theater Premiere. Der Hausherr vertraute dabei ganz auf das psychologisch hochgetriebene Menschendarstellungsvermögen seines Ensembles. Und er hat – wie schon mit seinen Inszenierungen von Ibsens Wildente und Tschechows Onkel Wanja zuvor – alles gewonnen. Schnitzlers Dialogkunst beginnt in der Aufführung zu funkeln. Und Flimm selbst hat sich noch einmal als brillanter Exekutor eines realismusnahen, das Stück nicht hinterfragenden, sondern seine Struktur auslotenden Interpretationsstils erwiesen.
Wie große Kostbarkeiten, so behandelt die Aufführung die Feinheiten des Stücks. Selbst wenn man eine gewisse Gegenwartsferne beklagen wollte, selbst wenn einen vor der Perfektion dieser Aufführung auch ein leiser Schrecken überfällt, man kann gar nichts anders, als sie unbedingt als handwerkliche Meisterleistung zu beschreiben. Elegant leitet er von Gruppen- zu Dialogszenen über und von ihnen wieder zu Gruppenszenen zurück. Indem er fast zwei Akte lang den Figuren Raum zur Entwicklung gibt, dann am Ende des zweiten Aktes mit einem Lichtwechsel die Intensität anzieht, um dann den dritten Akt mit kleinen Späßen beginnen zu lassen, beweist er Sinn für Rhythmus. Und ob man nun Hans Christian Rudolph als stücktragender Fabrikant Friedrich Hofreiter, Elisabeth Schwarz als unfreiwillig komische Frau Wahl, Samuel Fintzi als Portier Rosenstock, Hildegard Schmahl als Tragödin Anna Meinhold oder wen auch immer nimmt: Die Figurenzeichnung ist ausgefeilt bis ins kleinste. Voilà: ein Meisterstück!
Die Aufführung ist so schön, daß man unwillkürlich irgendwo an ihr kratzen möchte. Allein: Es gelingt nicht. Auch die inhaltliche Lesart überzeugt bis zuletzt. Das handlungsauslösende Skandalon in dem Stück, das zeigt Flimm unaufdringlich, aber deutlich, besteht darin, daß Frau Genia Hofreiter eben keine Affäre mit dem Konzertpianisten Korsakow eingegangen ist. Deshalb hat Korsakow Selbstmord begangen. Deshalb fühlt sich Herr Friedrich Hofreiter, mit dem Pianisten befreundet gewesen, sich von seiner Frau entfremdet. Für ihn sind Liebesabenteuer eine Selbstverständlichkeit. Nichtsdestotrotz wird er im fünften Akt dennoch Genias Geliebten Otto erschießen, sie hatte ihre Tugend in einer Art rückgreifendem Seitensprung doch noch verloren. Friedrich Hofreiter aber muß das zerstöten, was ihn bedroht: Jugend und Tugend.
Das Bühnenbild Rolf Glittenbergs steht der Differenziertheit der Inszeniertheit in nichts nach, so weit weg vom Zuckerguß war dieser Bühnenbildner lange nicht mehr. Und den Kostümen Marianne Glittenbergs sieht man erst auf den zweiten Blick an, wie teuer sie gewesen sein müssen. Wie ein sorgfältig gepflegtes Erbstück, das durchaus noch funktioniert, also etwa wie eine goldene Uhr, so erscheint Das weite Land in dieser Inszenierung. Dirk Knipphals
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