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Genschers Reise - Kohls Erfolg

■ Enthusiasmus und Mäkelei nach der Moskau-Reise des Außenministers / Grüne kritisieren zunehmenden „Mißbrauch der Umweltpolitik als Ersatz für klare Konzeptionen“ / Europa-Politik blieb ausgeklammert

Berlin (taz/ap) - Die Flucht in die Außenpolitik vor der innenpolitischen Misere scheint sich für Bundeskanzler Helmut Kohl nach dem Besuch in Moskau von Außenminister Dietrich Genscher zu eröffnen. „Hochzufrieden“ erklärte er sich jedenfalls nach dem Bericht seines Außenministers und prophezeite sogar für seinen Besuch in der Sowjetunion im Oktober sowohl ein „neues Kapitel“ als auch einen „Markstein“ in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. CDU und FDP sprachen gar von einem „Schlüsseltreffen“ und von einer „Schrittmacherrolle“ Genschers.

Dem forcierten Enthusiasmus entspricht derzeit wenig Konkretes: es werde laut Bundeskanzler Kohl ein Reihe von Entscheidungen und Vereinbarungen (zweijähriges Kulturaustauschprogramm, Umweltschutzabkommen) geben, die aber „noch nicht voll ausgereift“ seien.

Die Opposition reagierte mit gebremsten Lob und allgemeiner Regierungsschelte. SPD-Chef Vogel befand Genschers Auftritt für erfolgreich, schlug aber vor, daß der Außenminister Kohl im Herbst begleiten solle, um vor „Überraschungen“ sicher zu sein. SPD-Stallwache Ehmke wiederum forderte, daß Vogel den Kanzler begleiten solle. Diesen Vorschlag will der Kanzler aber erst einmal aussitzen.

Ehmke warnte im übrigen vor „zuviel Enthusiasmus“ wegen des allgemeinen „Schlingerkurses“ der Regierung in der Abrüstungs- und Entspannungspolitik. Karsten Voigt (SPD) kritisierte, daß keine Vorschläge zum Abbau der atomaren Kurzstreckenraketen vorgelegt worden seien. Außerdem rügte er, daß Genscher keinen Dialog über die Militärdoktrinen begonnen hätten.

Diese Kritiken wiesen Genscher und Kohl zurück. Abrüstungsfragen seien Genscher zufolge zentrales Thema der Moskauer Gespräche gewesen. So unterstütze etwa Moskau die Bonner Anregung, das Wiener Folgetreffen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) nur für eine dreiwöchige technische Pause zu unterbrechen. Kohl betonte, Genscher habe das ganze „Panorama“ der Abrüstungsfragen mit seinem Einverständnis erörtert.

Die Grünen kritisierten lediglich einen Aspekt: „Der zunehmende Mißbrauch der Umweltpolitik als Ersatz für klare politische Konzeptionen wird allmählich unerträglich.“ Wenn das ins Auge gefaßte Umweltschutzabkommen etwa so substanzlos und allgemein bleibe wie das Abkommen mit der „Tschechoslowakei“, könnte man auch darauf verzichten.

Keine der Parteien ging merkwürdigerweise auf die Europapolitik ein, obwohl die Befürchtung Moskaus (Warnung Gorbatschows vor dem 4.Reich von französischer Atommacht und deutscher Wirtschaftskraft) bekannt sind und wahrscheinlich ein Hauptgrund für einen Verhandlungserfolg im Herbst darstellen.

Darüber gesprochen wurde jedenfalls, denn Genscher betonte, er habe seinen Gastgebern erklärt, man wolle nicht in Europa Mauern einreißen, um sie an anderer Stelle wieder aufbauen.

KH

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