Genitalverstümmelung: Bildung statt Rasierklingen
"Ihr gebt mir eure Messer und ich bringe euch Lesen und Schreiben bei", sagt Rugiatu Turay zu den Frauen. Die Männer klärt Turay auf, die wussten fast nichts über grausame Ritual.
Die Messer liegen auf einem Tisch, lange Eisenstäbe mit verzierten Griffen, Rasierklingen. Mit den Eisenstäben werden Mädchen während des Rituals geschlagen. "Damit sie brüllen wie Affen", sagt Rugiatu Turay und sie ahmt die Schreie nach. Mit den Rasierklingen wird ihnen die Klitoris abgeschnitten. Jetzt aber werden sie niemanden mehr verletzen. Ihre Besitzerinnen haben sie bei einem öffentlichen Gelübde abgegeben und vor dem ganzen Dorf geschworen, nie wieder ein Mädchen zu verstümmeln.
Es ist ein ungewöhnlicher Versuch, der hier in Port Loko im Nordwesten von Sierra Leone stattfindet. Ausgerechnet in einem Land, das nach elf Jahren Bürgerkrieg nur für seine Grausamkeit bekannt war. Und das so arm und so kaputt ist, dass es nach dem UN-Weltentwicklungsbericht an drittletzter Stelle aller Länder liegt. Nirgendwo sonst sterben so viele Kinder und so viele Mütter, was auch daran liegt, das zwischen 85 und 95 Prozent der Frauen an den Genitalien verstümmelt sind. Ein Gesetz, das dies verbietet, gibt es nicht.
Sie lässt ihnen die Würde
Rugiatu Turay wurde für ihren Einsatz gegen Genitalverstümmelung am 7. Mai in Berlin mit dem Alice-Salomon-Award ausgezeichnet. Damit ehrt die Alice Salomon Hochschule Personen, die sich für die Emanzipation der Frauen einsetzen.
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AIM, das sich durch Spenden finanziert, wird von der Kinderhilforganisation Plan Deutschland unterstützt. (www.aim-sierra-leone.de)
Was Rugiatu Turay praktiziert, könnte man als ein aufklärerisches Experiment bezeichnen, eine Lektion in Sachen Humanismus. Eine Frau bekämpft ihre Feindinnen, doch sie lässt ihnen ihre Würde, denn die Frauenrechtlerin Turay geht mit den Frauen, die fast alle Analphabetinnen sind, einen Tauschhandel ein: Ihr gebt mir eure Messer und ich bringe euch dafür Lesen und Schreiben bei. Bildung gegen Genitalverstümmelung.
Die 34-Jährige ist in Port Loko aufgewachsen und gründete dort die Frauenrechtsorganisation AIM (Amazonian Initiative Movement). Sie weiß, dass sie nur so gewinnen kann. Geschätzt soll es 50.000 Frauen in Sierra Leone geben, die Genitalverstümmlungen vornehmen. Diese Frauen genießen ein hohes Ansehen, meistens sind sie auch Hebammen und Heilerinnen. "Man kann diese Frauen nicht einfach an den Pranger stellen und sagen: Ihr seid böse!"
Wenn Kadiatu Fofanah erzählt, wie sie ihr Metier beherrschte, ist noch immer Stolz zu spüren. Sie sitzt vor ihrer Wellblechhütte in einem weißen Kleid mit Perlenkette wie eine Königin, um sie herum steht die ganze Nachbarschaft. Sie war jung, sagt sie, vielleicht dreizehn, als sie ihren Beruf erlernte. Zwei Jahre dauerte ihre Lehre im Busch. Sie aß und schlief zusammen mit den Ausbilderinnen. "So wie andere lernen, einen Stift zu halten, lernte ich, wie man die Rasierklingen benutzt." Und sie sei gut gewesen. "Weil ich den Mut hatte, genau hinzusehen."
Tatsächlich betrinken sich viele der Frauen, weil sie es sonst selbst nicht aushalten. Oder sie sind alt und fast blind. "Dann schneiden sie zu viel weg", sagt Frau Fofanah mit dem Selbstverständnis einer Chirurgin. Sie habe immer mit klarem Kopf gearbeitet, unter ihren Händen sei nie ein Mädchen gestorben. Doch sie hat andere sterben sehen. Nur wusste sie wie die meisten ihrer Kolleginnen nicht, warum.
"Wenn ein Mädchen im Busch starb, glaubten die Frauen, sie sei von Dämonen besessen gewesen", sagt Rugiatu Turay. Erst AIM klärte über die Ursachen auf. Monatelang zog Turay mit ihren Mitarbeitern über die Dörfer. Sie hatten aufklappbare Körpermodelle dabei, an denen sie die Folgen des grausamen Rituals erklärten: Unfruchtbarkeit, Blasenschwäche, Entzündungen.
Den Männern waren die Zusammenhänge nicht klar
Den meisten war der Zusammenhang nicht klar, am wenigsten den Männern. Einmal, sagt die Frauenrechtlerin, lud sie einige Imame und Häuptlinge ein. Sie braucht die Dorfchefs, weil die Lizenzen ausstellen, ohne die die Frauen nicht praktizieren dürfen. "Wir haben ihnen einen Film über ein Initiationsritual gezeigt, danach waren sie so geschockt, dass ein Imam beschloss, seine acht Töchter nicht beschneiden zu lassen - gegen den Willen seiner Frau." In der Moschee wetterte der Imam fortan gegen Genitalverstümmelung und Frau Fofanah legte daraufhin ihren Beruf nieder. Sie sagt, sie fühle sich heute schuldig für das, was sie getan hat.
Angst vor den Flüchen
Als Rugiatu Turay vor sieben Jahren in ihrer Heimatstadt Lunsar AIM gründete, brach sie ein Tabu. Sie erhielt Morddrohungen. Die Genitalverstümmlung wird hier von den Mitgliedern eines weiblichen Geheimbunds ausgeübt, der so genannten Bundo-Gesellschaft. Sie unterliegt einem Schweigegebot. Und wer dieses Schweigen bricht, sei, so heißt es, verflucht. "Dein Bauch kann anschwellen und platzen, du wirst unfruchtbar, du wirst verbluten", lautet einer der Flüche. Rugiatu Turay ist damit aufgewachsen. Doch schon als junges Mädchen glaubte sie nicht mehr daran. Sie war zwölf, und wäre fast verblutet. Erst nach einer Woche konnte sie wieder laufen.
Die AIM-Chefin lebt anders als die meisten Frauen hier. Sie ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Allerdings wohnen gerade fünfzehn Mädchen, die vor dem Ritual geflohen sind, bei ihr. "In drei Zimmern schlafen die Mädchen, eins habe ich für mich", sagt sie und lacht. Ihr Tag ist voll. Morgens Schulbesuche, wo ihr Verein Aufklärungskurse gibt, mittags Treffen mit Imamen, Häuptlingen und Pfarrern - mit allen Männern, die etwas zu sagen haben - in einer Lehmhütte, in der man sich wie in einem Backofen fühlt. Rugiatu Turay scheint die Hitze nichts auszumachen. Sie debattiert mit den Männern, laut und mit großen Gesten, und sieht dabei auch noch ausgesprochen gut aus. Nur aus der Nähe sind ein paar Schweißtropfen auf ihrer Stirn zu sehen. Nachmittags fährt sie in die Dörfer.
Jetzt in der Trockenzeit, wenn die Lehmpisten befahrbar sind, kann sie auch zu den Gemeinden tief im Busch gelangen. Der Geländewagen holpert durch dichtes Grün, Palmwedel streifen das Fenster. Nach einer halben Stunde taucht Mathaska auf, ein typisches Dorf - Wellblechhütten, kein Strom, keine sauberen Latrinen, Müll hinter den Hütten. Die Schule ist ein Bretterverschlag. im Schatten eines Mangobaums hat sich das ganze Dorf versammelt.
Man kann viel kritisieren in Sierra Leone, die Korruption, die Ineffizienz, aber in einem Punkt ist das Land vorbildlich: Muslime und Christeån tolerieren einander. Neben dem Imam sitzt der Pfarrer. Und genauso selbstverständlich wie ein Muslim eine Christin heiratet, betet jetzt die ganze Gemeinde zu Gott.
Das Gebet hilft vielleicht besser zu ertragen, was nun passiert. Es ist nur ein Spiel, aufgeführt von einigen Kindern, doch es zeigt genau, wie das Ritual abläuft und wie das Mädchen verblutet. Als es auf dem Boden liegt, zerdrückt ein Mitspieler rote Beeren auf ihren gespreizten Beinen. Hinterher deklariert eine Zwölfjährige mit bebender Stimme: "Ich bin auch unbeschnitten eine richtige Frau." Eine andere ruft: "Gott hat mir eine Klitoris geschenkt. Warum soll ich sie dann abgeben?" Sie wehren sich gegen den Mythos, der sagt, dass eine Frau erst dann vollständig ist, wenn ihr etwas fehlt. Die Klitoris gilt im Verständnis ihrer Kultur als ein überflüssiges männliches Anhängsel, eine Art "kleiner Penis".
Für die Frauen im Publikum ist das Drama wie ein Spiegel. Die Kinder spielen, was die älteren erlebt haben - nur dass sie es überlebten. Und was ist es für die Männer? Einer von ihnen tritt vor, ein dünner Mann in Kaftan und Gummilatschen, der Häuptling des Dorfes: "Ohne Rugiatu Turay wüssten wir das alles nicht. Sie hat uns ermutigt, darüber zu sprechen."
Trotzdem wird in diesem Dorf Genitalverstümmelung noch praktiziert. Zwar verweigern sich immer mehr Mädchen, dafür wird die Praktik aber zunehmend an Kleinkindern vollzogen. Oder die Soweis – so nennt man hier die Frauen, die das Ritual praktizieren – greifen zu Tricks und überfallen die Mädchen beim Wasserholen, ziehen sie in den Busch und bedrängen sie so lange, bis sie nachgeben. Das hat auch ökonomische Gründe. Bisher haben die Frauen gut verdient, eine Beschneidung kostet mindestens 30 Dollar, viel Geld in einem Land, in dem 2009 das durchschnittliche Jahreseinkommen bei 900 Dollar lag. Das Geld wird zwar zum großen Teil für die Zeremonie verbraucht, für Essen und Getränke, doch vom Rest kaufen sie Lebensmittel für ihre Familien.
"Weil es Blutgeld ist"
Warum investieren sie aber dieses Geld nicht in eine neue berufliche Zukunft? Man könnte damit schließlich ein Geschäft aufbauen? "Weil es Blutgeld ist", sagt eine 45-Jährige geradeheraus. "Wovon soll ich also leben, wenn ich aufhöre?"
Rugiatu Turays Organisation bietet ihnen deshalb nicht nur Unterricht in Lesen und Schreiben an, sondern auch Kurse, die ihnen eine neue berufliche Perspektive ermöglichen. Die Frauen können dort ihre landwirtschaftlichen Kenntnisse verbessern, neue Methoden der Kleinviehzucht lernen oder lernen, wie man Seife macht. Auch Kadiatu Fofanah hat daran teilgenommen. Sechs Monate lang lief sie jeden Morgen die New Makeni Road in Lunsar entlang, zum ersten Mal in ihrem Leben besuchte sie in eine Berufsschule. Sie lernte, Saatgut besser zu reinigen und saubere Ställe für das Vieh zu bauen. Aber ihr größter Stolz ist etwas anderes: "Ich kann jetzt meinen Namen schreiben."
Im Moment verdient sie nichts. Das Blechdach ihrer Hütte ist voller Löcher. Wenn die Regenzeit kommt, sitzt die Familie mit Schirmen im Haus. Frau Fofanah wartet noch auf ihr öffentliches Gelübde. Denn erst wenn sie drei Jahre wirklich das Ritual nicht mehr praktiziert hat, darf sie daran teilnehmen. Vielleicht, so hofft sie, wird sie dann eine Ziege bekommen oder einen kleinen Kredit. Und dann wird sie Rugiatu auch ihre Messer geben.
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