Generation Haß

Nicht nur in Sachsen, überhaupt in der früheren DDR steigt die Zahl von Rechtsextremen. Gewalt gegen Ausländer, so scheint es, ist ein ostdeutsches Problem. Eifrig wird nach den Ursachen für dieses Phänomen gesucht. Die sozialistische Erziehung der DDR, der Zwang zum Kollektiv, heißt es, sei schuld. Doch Neonazismus gibt es auch im Westen – trotz aller Reformpädagogik. Die Jugend antwortet mit Schlägen gegen das Fremde. Haben beide Systeme versagt?  ■ Von Uta Andresen

Sie möchte eine Einbauküche, er leidet unter dem „Teewurstsyndrom“, unter dem verzweifelten Wunsch, ein ganz gewöhnliches Abendessen zu sich nehmen zu dürfen. Anna und David träumen den Traum vom durchschnittlichen Leben. Sie haben es gerne bürgerlich, überschaubar. Der Traum ehemaliger Kinderladenkinder, deren Eltern Teewurst und Einbauküche nicht ins Haus kam – zu spießig. Die linksalternativen Altvorderen hofften mit dieser abstinenzlerischen Pädagogik, unangepaßte und individuelle Sprößlinge hervorzubringen.

Unwägbarkeiten der Erziehung – das Produkt der pädagogischen Bemühungen läßt sich nur schwer vorhersagen. Einfache Reizreaktionsschemata scheint es nicht zu geben. Und wer sie verkündet, kann schnell in die Enge getrieben werden.

Diese Erfahrung muß jetzt ein renommierter Kriminologe aus Hannover machen. Der Rechtsradikalismus im deutschen Osten, so meint er, sei eine Folge der repressiven staatlichen Erziehung der DDR. Was der Kriminologe Christian Pfeiffer zu erklären versucht, sind Vorfälle wie im brandenburgischen Guben, wo eine Meute Jugendlicher einen Algerier quer durch die Kleinstadt hetzt und dann verbluten läßt.

Der SED-Staat habe seine Bürger zu angepaßten, Ich-schwachen Untertanen herangezogen, die sich nach starker Führung sehnen und ihre Aggressionen an Ausländern auslassen, sagt nun Pfeiffer. Und: Diese Erziehung wirke immer noch nach. Schließlich seien es die gleichen ErzieherInnen, die gleichen Eltern und LehrerInnen, an denen sich heute die Jugendlichen orientieren. In Thüringen etwa wurde eine Lehrerin von KollegInnen gemobbt, die sich gegen deren „Weiter so, als sei nichts geschehen“ wandte.

Jugendkriminalität hat in Deutschland spezifische Ausprägungen. Im Westen gibt es mehr Morde und Vergewaltigungen als im Osten, dort ist indes die Gefahr für einen Ausländer, Opfer eines rechtsradikalen Überfalls zu werden, eklatant höher. 1997 gab es in den neuen Bundesländern 4,7mal so viele Übergriffe wie im Westteil. Die Zahlen der Tatverdächtigen sind fünf- bis sechsmal so hoch.

Untersuchungen haben gezeigt, daß junge ostdeutsche Täter fast durchweg in der Gruppe angreifen – junge West- Rechte nur etwa zur Hälfte. Dabei leben in den neuen Bundesländern kaum Ausländer, 1,8 Prozent (West: 10,2 Prozent). Gute Chancen also, zwischen Rostock und Cottbus Opfer eines ausländerfeindlichen Anschlags zu werden. 27mal häufiger als im Westen. Kein Wunder, daß viele Asylsuchende inzwischen nichts mehr fürchten, als in Ostheime verfrachtet zu werden.

Relativ höhere Gewalt gegen Ausländer, vor allem Hatz in der Gruppe – es muß etwas geben, was den Ost-Rechten zu seinem Aggressionsverhalten bringt. Und das, sagt Pfeiffer, könnten nur die aus der DDR hinübergeretteten Werte des Kollektivismus, der Anpassung an die Gruppe sein. Anordnungen von oben werden nicht hinterfragt. Wozu ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn doch alle zuschlagen. Die Gruppe ist alles, der einzelne nichts.

Das haben Jugendliche in der DDR schon früh gelernt, sagt Pfeiffer. Etwa die Topfzeiten in der Kinderkrippe. Unter dem Motto „Erst die Pflicht, dann das Vergnügen“ wurde der sozialistische Nachwuchs zu sechst auf den Donnerbalken gesetzt. Erziehungshandbücher erklärten den Eltern, wie sie ihren Sprößling frühzeitig zu Sauberkeit bringen. „Absurd“, sagt Pfeiffer, sei diese Normierung gewesen, und spricht von „Kindervergewaltigung“, die zur späten Aggressionsabfuhr an Ausländern führe. Wer auf Kommando drückt, schlägt auch auf Kommando zu.

Ähnlich sieht das der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz. Er hat 1990 in seinem Buch „Der Gefühlsstau“ die „Töpfchenthese“ aufgestellt. Das Anpassen an Abläufe, an Normen der Kindergartengesellschaft hätte eine Hemmung der Spontaneität zur Folge, schrieb Maaz. Das wiederum erzeuge ein psychosoziales Mangelsyndrom, einen Gefühlsstau, der sich in Aggression entlädt. Gegen Schwächere, gegen Fremde.

Kiesel, Glasperlen, Getreidekörner, Sand, Moos und Muscheln – jedes Material in einem eigenen Körbchen, alle in einer Reihe. „Systematisch“, sagen die Kindergärtnerinnen, sei es hier. In ihrem Büro haben sie Schautafeln aufgehängt. „Wie kreativ und neugierig bin ich selbst?“ oder „Ist Planung heute überhaupt noch anwendbar?“ steht dort zu lesen. Fragen, die sich die Erzieherinnen in dem Ostberliner Kindergarten seit der Wende allmorgendlich stellen. Nachwendeersatz für die sicherheitsspendenden Vorgaben des Volksbildungsministeriums.

Ziel des Erziehungssystems der DDR war, die „sozialistische Persönlichkeit“ heranzubilden. Erziehung sollte dabei gestaltet sein als „kollektive Lebensorganisation“, beginnend im Säuglingsalter. Krippe bis drei, Kindergarten bis sechs. Hort bis Klasse vier. Junge Pioniere bis neun. Thälmannpioniere (“Kampfreserve der Arbeiterklasse“) bis vierzehn. Dann Freie Deutsche Jugend, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, am Ende die Volkssolidarität. Von der Windel bis zur Krücke im Griff des sozialistischen Staates.

„Anpassung war das eigentliche Ziel des Staates, sie wurde belohnt“, sagt Bürgerrechtler Hans-Jochen Tschiche. „Wer etwas anderes sagen wollte, wurde abgestraft.“ Die legendäre sozialistische Nestwärme machte es nur den Angepaßten kuschelig, Kritiker wurden kaltgestellt. „Pippi Langstrumpf hätte nichts zu lachen gehabt in der DDR“, sagt Anetta Kahane, Ostberliner Sozialwissenschaftlerin und Geschäftsführerin der Regionalen Arbeitsstellen für Ausländerfragen in Berlin.

Dazu, daß die Ostdeutschen jetzt mit solch geballter Empörung auf die These Pfeiffers reagieren und bei Zeitungen wie der Magdeburger Volksstimme waschkörbeweise Leserbriefe eintrudeln, meint Bürgerrechtler Tschiche: „Die Leute haben wohl vergessen, was in vierzig Jahren DDR war.“ Er erklärt sich diese Empörung so: „Wer hier vierzig Jahre gelebt hat, hat so seine Anpassungsrituale entwickelt.“ Das proletarische Kleinbürgertum der DDR habe keine Diskussionskultur entwickelt, sagt Anetta Kahane. Es gibt nicht, was nicht sein darf. Unangenehme Dinge würden totgeschwiegen, Auseinandersetzung über die Vergangenheit gebe es nicht. Ostbürger, die die DDR kritisierten, würden als Nestbeschmutzer dargestellt. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Wer nicht wir ist, ist die.

Mitursächlich dafür sei die Wiedervereinigung, die „denkbar unsympathisch“ verlaufen sei, sagt Anetta Kahane. Alle zivilgesellschaftlichen Kompetenzen im Osten seien damals gekappt worden. Menschen, die eine sozialistische DDR wollten, nicht diese realexistierende Karikatur des Staates, die Funktionärsgranden wie Erich Honecker zu verantworten hatten.

Doch diese „Reformer“ wurden mit der Wende diskreditiert. Die meisten von ihnen waren keine Dissidenten, sondern hatten die SED von innen verändern wollen – und sich damit aus der paternalistischen Sicht des Westens die Hände schmutzig gemacht. „Die Christa-Wolf-LeserInnen, die eine Idee davon hatten, wie Gesellschaft gestaltet werden muß, wurden ideologisch und ökonomisch enthauptet“, sagt sie. Wo keine Zivilgesellschaft mehr ist, kann keine zivile Diskussion erwartet werden.

Ein Montessori-Kindergarten in der norddeutschen Provinz. Frühstückszeit. Die Erzieherinnen rufen zu Tisch. Fünf Kinder kommen ihren Lockungen bereitwillig nach, zwei folgen widerstrebend, nicht ohne ihre Bauklötze. Der überwiegende Teil der Gruppe jedoch widmet sich weiterhin seinen Puppen, Wachsmalstiften, Eisenbahnen. Keine Zeit. Recht so, freuen sich die Erzieherinnen. Auf die eigene Persönlichkeit kommt es an. Individualismus muß gefördert werden, lautet eine der pädagogischen Maximen des Westens, die als Lehre aus dem Nationalsozialismus gewonnen wurde.

Individualismus, Förderung der persönlichen Anlagen, das Recht auf Widerspruch und eine eigene Meinung: Das war im Westen nicht immer so. In den fünfziger Jahren bestimmte Vatern, was auf den Tisch kam. Keine Widerworte. Die Elterngeneration, aufgezogen im nationalsozialistischen Deutschland, war autoritär. Kinder hatten sauber, fleißig, artig und ansonsten still zu sein. Das änderte sich erst mit der Jugendrevolte der Achtundsechziger. Das Aufbegehren gegen die in der Nazizeit aufgewachsenen Eltern wandte sich auch gegen deren rückständigen Erziehungskonzepte, gegen Untertanendrill, gegen Kinderaufbewahrung und –unterdrückung.

Kinderläden wurden gegründet, Laisser-faire wurde zum Schlagwort. „Du, laß uns drüber reden.“ Kein Satt und Sauber mehr. Bloß keine Duckmäuser heranziehen, sondern demokratische Köpfe.

Eine emanzipatorische Entwicklung, die Bürgerrechtler Tschiche in der DDR vermißte. Erziehungskonzepte wurden nicht überdacht oder reformiert, einen Bruch mit autoritären Strukturen gab es schon gar nicht, sagt Tschiche. „Ein 1968 hat im Osten nicht stattgefunden.“

Die gegensätzlichen Wege der beiden deutschen Staaten im Erziehungssystem haben zu gegensätzlichen Erziehungsprodukten geführt. Untersuchungen hätten einen „eindrucksvollen“ Unterschied zwischen Jugendlichen in Ost und West gezeigt, sagt die Göttinger Psychoanalytikerin Annette Streeck-Fischer, die sich mit der Psychostruktur von Neonazis aus Ost und West beschäftigt. Jugendlicher West versucht, sich als unangepaßt zu inszenieren. Bloß nicht so sein wie alle! Jugendlicher Ost orientiert sich gerne an dem, was da ist, versucht sich anzupassen. Gemeinsam sind wir stark!

Das zeige sich auch in der Ausformung des Rechtsextremismus in Ost und West. So lasse sich in Ostdeutschland eine militante, rechtsextremistische Alltagskultur bei einer breiten Masse von Jugendlichen feststellen, sagt Sozialwissenschaftlerin Anetta Kahane. „Das haben Sie in Bayern nicht.“ Im Westen gebe es mehr diversity, mehr Cliquen, mehr Individualisten.

Allerdings schützt Eigenständigkeit vor Rechtsradikalismus nicht. Und Linksliberalismus auch nicht. Etwa Felix K., Arztsohn aus aufgeklärtem, politisch engagiertem Elternhaus. Die Eltern tragen „Haß macht krank“-Plakate auf Antirassismusdemos, Sohn Felix zündet in Solingen mit drei anderen Kumpels ein Asylbewerberheim an. Fünf Menschen verbrennen.

„Man sollte die Demokratie im Westen nicht schönreden, um den Osten zu erklären“, warnt Sozialwissenschaftlerin Anetta Kahane. „Sozialisation ist mehr als Erziehung, und Rechtsextremismus ist mehr als Sozialisation“, sagt die ostdeutsche Ausländerbeauftragte.

Psychoanalytiker Maaz wirft Pfeiffer vor, den Gefühlsstau der Jugendlichen osteinseitig zu betrachten. Auch im Westen produziere die Gesellschaft ein psychosoziales Mangelsyndrom bei Kleinkindern. Nur ist es hier nicht die Uniformität der Kinderkrippe, die als Ursache wirkt, sondern ein starker Leistungsdruck. „Das Sei-stark, Verkauf-dich-gut, Leiste-was bildet im Westen die Ich- Schwäche aus“, sagt Maaz.

Auch wenn Kleinkinder nicht überall unmittelbar mit solchen Anforderungen konfrontiert würden, so leben die Eltern den Kindern diese verinnerlichte Haltung der Gesellschaft doch vor. Anpassungsdruck hier, Leistungsdruck dort – die Folge sei in beiden Fällen „ein aufgestautes Aggressionspotential“, sagt Maaz.

Wohin diese Aggressionen führten, dafür seien die sozialen Verhältnisse verantwortlich. Und dafür, ob sich die aufgestauten Aggressionen kontrollieren oder gar abbauen lassen.

In Westdeutschland bestand und besteht immer noch die Chance, sich über Leistung zu beweisen. Wer hier scheitert, hat wenigstens die Möglichkeit, sein Aggressionspotential zu kanalisieren – durch „Zerstreuung“, wie es Maaz nennt. Kickboxen, Kino, Kirmes.

In der DDR hielt „die Enge des Systems“ das Potential unter Kontrolle. Weil der Staat Sozialstandards wie Arbeit, Wohnung, Einkommen garantierte, seien die „Ich-schwachen Menschen“ nicht unter Druck gekommen. Erst als diese Enge wegbrach, folgte ein „labiler Raum, eine spürbare Haltlosigkeit“, sagt Maaz. Bei jenen, die in dieser Situation keine Möglichkeit hatten, die Lücke mit Leistung zu kompensieren, verstärkte sich der innerseelische Konflikt. Rechte Gruppen, die mit einfachen Formeln komplexe Dinge beschreiben, die Führerschaft und Gemeinschaft anpreisen, bieten die Chance, den „Gefühlsstau“ abzureagieren.

Rechtsradikale Ost wie West kommen in der Regel aus erziehungsschwachen Familien. Süßigkeiten statt Trost, Gebrülle statt Hilfe bei den Hausaufgaben, Schläge statt Diskussionen. Doch während im Osten die rechtsradikale Biographie eine gesellschaftliche sei, geprägt durch die Gruppe, früher durch den Staat, sei die im Westen eine persönliche. Der Sohn, der mißhandelt wurde, sich unterlegen fühlt, in der Schule scheitert.

Für schnelle Bestätigung kommt der neonazistische Trupp gerade recht. Einmal sich groß und stark fühlen, und es den Schwächeren spüren lassen! „Militanz verschafft schnellen narzißtischen Gewinn“, sagt die Psychoanalytikerin Streeck-Fischer. Die könne sich jedoch auch, wie im Westen, mit Raubüberfällen oder Gewalttaten Luft machen.

Daß es im Osten vermehrt Ausländer sind, die diesen Größenphantasien zum Opfer fallen, erklärt sich die Psychoanalytikerin damit, daß man in der DDR nicht gelernt habe, mit Fremden zu leben. Wenn stets auf das Solifest mit den Angolanern oder Russen gepocht würde, sagt Bürgerrechtler Tschiche, ließen die Ostbürger eines außer acht: Den Ausländer auf der Straße, im Geschäft, im täglichen Leben gab es nicht. „Die waren kaserniert“, sagt Tschiche. Zudem gehörte zu den „Zielen und Aufgaben der vorschulischen Erziehung“, „tiefe Abscheu gegen Menschen, die den sozialistischen Aufbau stören“, bei den Kleinen hervorzurufen. Alles Böse kommt von außen. So wurden Feindbilder früh geprägt. Das Fremde konnte man nicht dulden.

Von Heino bis zu den Böhsen Onkelz, von der Mosel bis an den Rhein, von der gebratenen Kartoffel bis zum Sauerkraut – im Dresdner „Café Germania“ hält man aufs Deutsche. Musik, Wein, Essen oder Bier – sogar auf der Latrine merkt man, wo man ist. Hier schmiert keiner an die Wand, hier geht auch nichts daneben. Falls sich doch mal jemand „vergessen“ sollte, wird schnell hinterhergewischt. Denn so was gibt's hier nicht – Sauberkeit und Ordnung sind Programm.

Statt mit Parolen auf dem Scheißhaus ist der deutsche Keller mit Hellebarden, Schwertern oder Armbrusten geziert – mit freundlicher Sponsorenschaft des städtischen Waffenhändlers, wie die Getränkekarte vermerkt. Odin, der von den Germanen verehrte Sturmgott als Urheber von Kriegskunst, Kultur und Weissagung, ist auf einem Wandbild verewigt. „Die Leute schätzen das Gepflegte hier“, sagt Kneipier Helmar Braun. Immer öfter kämen neben den Glatzen auch ganz „Normale“, die zwar mit „Rechts“ nichts zu tun hätten, aber die die „gelebten deutschen Grundtugenden“ zu schätzen wüßten.

Sauberkeit, Ordnung, Disziplin: Mit diesen besonders in Deutschland kultivierten Tugenden, so warf der damalige Nachwuchspolitiker Oskar Lafontaine schon 1982 Bundeskanzler Helmut Schmidt vor, ließe sich auch ein KZ führen.

Im September wird das sächsische Bildungsministerium die schon von DDR- Volksbildungsministerin Margot Honecker so geschätzten Kopfnoten wieder einführen – auf Wunsch der Eltern und der Wirtschaft. Eine Umfrage hatte neunzig Prozent Zustimmung ergeben, daß Ordnung, Fleiß, Betragen wieder bewertet werden sollten. Für Hans-Jürgen Tschiche zeigt das, daß die Sekundärtugenden des preußischen Obrigkeitstaates, die auch schon die Nazis verinnerlicht hatten, über die DDR in den heutigen Osten hinübergerettet worden sind.

Eine Bildungsreform und eine Abschaffung der Kopfnoten wie im Westen der siebziger Jahre gab es im Osten nicht. Noch im vorigen Jahr habe ihm ein CDU- Abgeordneter des sachsen-anhaltinischen Landtages von Strenge und Pflichterfüllung vorgeschwärmt. Die Eltern hätten Disziplinierung erfahren und gäben diese an ihre Kinder weiter. „Die Ostdeutschen“, sagt Tschiche, „sind deutscher als die Westdeutschen.“

Die Wiedereinführung der Kopfnoten offenbare aber auch Hilflosigkeit, meint Anetta Kahane. Bei der jetzigen Situation stoße Althergebrachtes auf Verunsicherung und erzeuge den Wunsch nach Autorität. Die Eltern sind auf die jetzige Berufswelt unvorbereitet, können ihren Kindern keine Orientierung geben. Die Lehrer, meist noch die alten, sind verunsichert, holen sich für jede Entscheidung eine Genehmigung von der vorgeordneten Behörde oder machen so weiter wie bisher. Da hoffe eben so mancher auf ein schnelles Disziplinierungsmittel des renitenten Nachwuchses, meint Anetta Kahane.

Wenn es um rechtsradikale Übergriffe im Osten geht, winden sich Politiker, Sozialarbeiter und Bürger. Nach dem Überfall in Guben sprach Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe von einer Tat „gegen den Trend“. Als die brandenburgische Gemeinde Gollwitz sich weigerte, sechzig jüdische Einwanderer aus Rußland aufzunehmen, nahm Stolpe „die normalen Bürger“ des Dorfes in Schutz, die unter „Planungsfehlern“ zu leiden hätten. Im Leipziger Jugendtreff „Kirschberghaus“ hatte die rechte Szene praktisch die Leitung übernommen – die Sozialarbeiter überließen in falschverstandener Toleranz den Rechten immer mehr Raum.

Oder Mahlow, gleich hinter der Grenze Berlins. Zwei jugendliche Autofahrer machen Jagd auf drei britische Bauarbeiter, denen sie einen Stein ins hintere Fenster des Wagens werfen. Die Bauarbeiter verunglücken, einer von ihnen ist seitdem gelähmt. Der Bürgermeister nimmt die Jugendlichen zunächst in Schutz und macht sich keine Sorgen darüber, daß die Tat der Dorfjugendlichen in seiner Gemeinde kein Mitleid weckte.

Als in Sachsen-Anhalt 12,9 Prozent die DVU wählten, sprach der Brandenburger SPD-Fraktionschef Wolfgang Birthler von „Not, Protest und Enttäuschung über den Weg der deutschen Einheit“. Über tausend Glatzen versammeln sich zur NPD- Demo in Magdeburg gegen den Doppelpaß, zur Gegendemo kommen lediglich vierhundert Menschen, die Antifa bringt noch einmal sechshundert zusammen.

Rechtsradikalismus mobilisiert kaum noch Widerstand, wird heruntergeredet, vertuscht. Denn die Täter, so wird suggeriert, sind eigentlich die Opfer.

Bei dieser Art von Umgang mit dem Problem dürfe man sich nicht wundern, wenn brave Jugendliche weiter „Ausländer klatschen gehen“. Diese ewigen Entschuldigungen der Politiker und Forscher, Gewalt gegen Ausländer sei eine Folge von Armut und Perspektivlosigkeit, seien kontraproduktiv, sagt Kriminologe Christian Pfeiffer. „Damit macht man es sich zu einfach.“ Zumal die Mehrheit der fremdenfeindlichen Täter – in Ost wie West – weder arbeitslos noch arm sind. Sie sind zumeist Arbeiter, Azubis, untere Angestellte mit niedrigem Bildungsniveau.

Das Problem Rechtsextremismus, sagt der Bielefelder Jugendforscher Wilhelm Heitmeyer, werde zu stark biographisiert. „Das System DDR existiert nicht mehr.“ Ergo müsse man die Machtstrukturen und Verwobenheit rechter Gruppen in den Städten und Gemeinden untersuchen. Was geschieht in den „national befreiten Zonen“, die Heitmeyer lieber „Angsträume“ nennt? Inwiefern gibt es Unterstützung durch die kommunalen Eliten? Wie wird Gewalt in Macht transformiert? Wie funktioniert die soziale Kontrolle? In Guben verlor eine Sozialarbeiterin ihren Job, weil sie Journalisten rechte Szenetreffs zeigte. Da hatten die Nachbarn gut aufgepaßt. In Sachsen-Anhalt sind bei den über 27jährigen noch mehr ausländerfeindliche Vorurteile vorhanden als bei den Jugendlichen. Wenn die Eltern so denken, wie Umfragen belegen, warum sollen die Jungen dann nicht zuschlagen?

Ursula Peukert, Hamburger Erziehungswissenschaftlerin, die sich vor allem mit Kindergartenpädagogik beschäftigt, sieht das eigentliche Problem darin, daß die sozialen Strukturen zerfallen und neue soziale Regeln noch nicht ausgehandelt sind. Das bisherige Bildungsziel müsse erweitert werden – nicht nur Anhäufen von Wissen, sondern auch Erlernen sozialer Kompetenzen. Keine Noten für Ordnung, Fleiß und Disziplin, keine Züchtigung, was bis heute den Eltern in der Bundesrepublik nicht verboten ist: „Regeln müssen freiwillig verhandelt werden, und man muß sich ihnen freiwillig unterordnen.“ Sonst würde sich niemand an sie halten. Unterdrückung führe nur zu Ohnmachtsgefühlen – und zu neuen Aggressionen.

Doch mit wem sollen soziale Regeln ausgehandelt werden – wenn das Gros der Eltern rechtsradikaler Jugendlicher deren Tun stillschweigend billigt? Mit wem Regeln formulieren, wenn ostdeutsche Politiker wie Manfred Stolpe nichts anderes im Sinn haben als abzuwiegeln?

Die Ostberliner Sozialwissenschaftlerin Anetta Kahane arbeitet seit der Gubener Hatz gemeinsam mit den Stadtverordneten an Konzepten, wie man dem rechtsradikalen Milieu in der Stadt begegnen könne. Die derzeitige Orientierungslosigkeit sei beklagenswert, meint auch sie. „Aber die Frage ist doch“, sagt sie, „wann kriegt man sich wieder ein?“

Mitarbeit: Rico Czerwinski und Nick Reimer

Uta Andresen, 29, ist Redakteurin im taz.mag. Schwerpunktmäßig beschäftigt sie sich mit Weltanschauungsgruppen

Ende April erscheint zum Thema: Rechtsextremistische Jugendliche – Was tun? 5. Weinheimer Gespräch. Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 34 Mark