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Gemeinschaftsschule prescht vorSchule auf den Kopf gestellt

Persönliche Arbeitsplätze, individuelle Ziele, viel Teamarbeit - wie eine zukünftige Gemeinschaftsschule schon jetzt den Unterricht gestaltet.

Statt des Lehrers sollen die Schüler nun im Mittelpunkt stehen. Bild: dpa

STUTTGART taz | Seit zehn Jahren hat Matthias Wagner-Uhl auf diesen Tag gewartet. Am Montag sitzt der Schulleiter der Grund- und Hauptschule Neuenstein in Stuttgart neben Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD), die an diesem Tag die ersten Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg bekannt gibt. 34 sind es bislang. Auch Wagner-Uhls Schule darf jetzt dabei sein.

Unter der schwarz-gelben Vorgängerregierung hatte sein Konzept, das in vielen Punkten jetzt schon umgesetzt wird, wenig Gegenliebe gefunden. "Eigentlich könnte Neuenstein die Unterlagen aus der Schublade ziehen, mit denen sich die Schule vor etwa zehn Jahren für das Modell Verbundschule bewerben wollte", schrieb die Schule zum Bewerbungsverfahren auf ihrer Website. "Die damalige Ministerin Annette Schavan war von der Idee ganz angetan. Ihr Ministerium allerdings nicht."

Der Grundansatz in Neuenstein, das im Kreis Hohenlohe liegt: "Nicht mehr der Lehrer steht im Mittelpunkt, sondern der Lernende", sagt Wagner-Uhl. "Es handelt sich im Prinzip um eine Umkehrung von Schule." Am Montag präsentierte er Bilder von den persönlichen Arbeitsplätzen eines jeden Schülers, von Beratungsgesprächen mit Lehrern sowie von "Kompetenzrastern", in die jeder Schüler individuell seine Ziele einträgt. Die Schüler nehmen sich ihre eigenen Wochenaufgaben vor. Ein Schwerpunkt im Unterricht ist das Lernen im Team, wofür derzeit bis zu zehn Stunden in der Woche zur Verfügung stehen. Die Gruppen werden bewusst aus unterschiedlich leistungsstarken Schülern zusammengesetzt.

Noch erlebe er sehr verunsicherte Eltern, berichtet Wagner-Uhl, etwa in Bezug auf das Unterrichtsniveau. Doch auch wenn er die Sorgen ernst nimmt, für ihn ist klar: "Ganz Europa macht es uns eigentlich schon vor." Und selbst in Deutschland gebe es bereits funktionierende Gemeinschaftsschulen, nämlich die Grundschulen, an denen Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen bereits heute vier Jahre lang "voneinander und miteinander lernen".

Erfahrung in Ganztagsbetreuung, der Inklusion und aktiver Elternarbeit

Zu den Auswahlkriterien der Gemeinschaftsschulen zählten unter anderem der Umgang mit Vielfalt, die Unterrichtsqualität, das Schulklima sowie das Qualitätsmanagement. Außerdem wurde verlangt, dass bereits praktische Erfahrungen in der Ganztagsbetreuung, der Inklusion und aktiver Elternarbeit gesammelt wurden.

Kein Kriterium war die regionale Verteilung. Auffällig ist dabei, dass es im Kreis Tübingen künftig gleich drei Gemeinschaftsschulen geben wird, während ansonsten keine Großstadt vertreten ist. Zudem wird es im gesamten Regierungsbezirk Karlsruhe lediglich drei Gemeinschaftsschulen geben. Man müsse sich einmal fragen, warum sich im ländlichen Bereich "so viel Fantasie" in Bezug auf die Schulkonzepte entwickelt habe, sagte die Kultusministerin. "Das hat sicherlich was mit der Abgeschiedenheit zu tun."

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8 Kommentare

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  • G
    Gemeinschaftsschule

    Auf dieser Seite (http://www.schule-neuenstein.de/1842) kann man sich umfassend über die Arbeit der im Text genannten Schule in Neuenstein informieren. Vielleicht ist die eine oder andere Anregung für die Diskussion um die Gemeinschaftsschule dabei.

    Evtl. wird bei intensiverer Beschäftigung deutlich, dass es nicht "nur" um "soft Skills" und um die Schuleinrichtung geht, auch die Chancen der Arbeit mit Kompetenzrastern werden erkennbar und Vieles mehr...

  • P
    Privatschule

    In Zukunft hat man nur gute Chancen auf einen guten Job, wenn man eine Privatschule und bald eine Privatuni besucht. Wenn jemand ein deutsches Produkt kauft, dann nur wenn es von einem Ingenieur entwickelt wurde welches knallhart rechnen kann und nicht von einem der statt dessen lieber seinen Namen tanzt. Mal sehe wieviele Politiker oder Journalisten ihre Kinder zur Privatschule schicken. Der berühmte Fall Ypsilanti oder der des grünen Bürgermeisters von Kreuzberg zeigen wie es dann läuft. Wasser predigen aber Wein saufen.

  • P
    Pyromanic

    Danke für den Artikel, aber ein bisschen ausführlicher oder verlinkter sollte es schon sein. Wo ist zum Beispiel das Schulprogramm, warum wurde es nicht erwähnt? Warum wird so vieles nur nebenbei erwähnt, und warum z.B. nicht dass gerade so viele guten Schulen sich erst dann zu guten Schulen entwickelt haben, als sie ums Überleben kämpfen mussten? Was bedeutet eigentlich eine gute Schule - und warum wird der Deutsche Schulpreis in der taz höchstens kurz angeschnitten?

  • GM
    Gesunder Menschenverstand

    Mal sehen, ob dann auch der Weltmarkt deutsche Ingenieure will, die (vielleicht)

    sozial hochkompetent sind, aber ein Drittel Mathematik weniger aus der Schule mitbringen, was notwendigerweise mittelfristig

    das Niveau an den Unis senken wird (hat schon begonnen, ich bekomme es aus der Uni mit).

    Gute Nacht Deutschland.

  • J
    Julius

    Hervorragend. Gut, das die Bildungsreformdebatte nun auch BaWü Einzug hält. Das wurde langsam Zeit! Zwar ist das noch nicht ganz Von-Hentig-Stil à la Laborschule Bielefeld – aber das geht in die richtige Richtung! Ich hätte es gut gefunden, einen eigenen Arbeitsplatz zu haben und feste Betreuungsgespräche mit Lehrkräften zu haben. Mit Wochenarbeitsplänen habe ich in der Grundschule hervorragende Erfahrungen gemacht. Warum sollte das später nicht mehr funktionieren?

  • A
    anke

    Würden Menschen in der "Abgeschiedenheit" tatsächlich mehr Fantasie entwickeln als anderswo, müsste sich Baden-Württembergs Kultusministerin Warminski-Leitheußer fragen lassen, wieso sie nicht zwei von jeweils drei Monaten "in Klausur" verbringt, und zwar ganz mit sich allein.

     

    Mit dieser meiner Auffassung vom Sinn oder Unsinn eines Ministeramtes, fürchte ich, liege ich wieder vollkommen falsch. Heutzutage sind es schließlich weder die guten Ideen (die werden kostenlos frei Haus geliefert von denen, die man ums Überleben kämpfen lässt) noch irgendwelche wie auch immer gearteten fachlichen Qualifikationen (dafür, nicht wahr, hat man Personal), die eine Führungskraft ausmachen, sondern (1.) der durch nichts gebremste Wille zur Macht, (2.) eine von keinem Selbstzweifel behinderte Entscheidungswut und (3.) ein Sack voll gute Beziehungen. In Klausur wird das alles nicht besser.

     

    Im Übrigen würde in einem völlig leeren Kopf selbst dann kein zündender Gedanke wachsen, wenn man ihn samt Besitzer auf den Mond schießen würde. Schade eigentlich.

  • P
    Peter

    - "Am Montag präsentierte er Bilder von den persönlichen Arbeitsplätzen eines jeden Schülers"

     

    Das ist natürlich für die Vermittlung von Lerninhalten entscheidend. Genauso wie die Farbe des Schulbuches und die Größe der Frühstückdose.

     

    - "von Beratungsgesprächen mit Lehrern"

     

    Als ob Lehrkräfte seit neuestem dafür extra Zeit bekommen und bezahlt würden.

     

    - "sowie von "Kompetenzrastern", in die jeder Schüler individuell seine Ziele einträgt."

     

    Na klar. Ein Erst- oder selbst ein Fünftklässler weiß bereits, was seine individuellen Lernziele und zentrale Punkte für sein späteres Leben in Berf und Gesellschaft sind.

     

    Ich bin gespannt, wann endlich nach dem Alphabet sämtlicher Schulunterricht abgeschafft wird: jeder Schüler erstellt sich ein Kompetenzraster und darf sich dann via Internet alles beibringen und beibringen lassen, was er für sein späteres Leben braucht! Auf das Deutschland in ein Land der Mediendesigner, Musikstars, Tierärzte und Computerspielentwickler verwandelt wird.

     

    Unterrichtsklassen mit einem Lehrer für 4 oder mehr Jahrgänge auf einmal kannte ich bisher nur aus Afrika oder Nachkriegsdeutschland. Wirklich bescheuert, wer andere Zustände haben wollte, so wie die deutschen Bildungsexperten der letzten Jahrzehnte!

  • MB
    Markus Brandt

    Was ist das denn bitte für eine schwache Argumentation? "Ganz Europa macht es uns vor". Was macht uns Europa denn noch so alles vor? Rechtsradikale Parteien an der Regierung und mit bis zu 20% im Parlament, Außenhandelsdefizite, Schulden, bürgerkriegsähnliche Zustände, die Jugend verlässt das Land, usw... . Oh super, lasst uns doch die anderen Europäer nachmachen. Was bisher blendend funktioniert hat und worum uns die ganze Welt beneidet muss schlecht und böse sein, wenn linke Sozialingenieure das behaupten.

     

    Soft skills sind ja schön und gut, aber wir brauchen Schulen die den Kindern und Jugendlichen Kernkompetenzen vermitteln. Das sind: Sprachen, Mathe und Naturwissenschaften. Musik und Philosophie ist auch sehr wünschenswert. Dann erst kommt der Rest.

     

    Was will ein semi-Analphabet mit Matheschwäche der ganz toll teamfähig ist später denn mal werden?