"Gemeinschaften" von Zygmunt Bauman: Elitäre Blase in L. A. oder Tokio
Zygmunt Bauman, der große alte Soziologe, hat ein neues Buch geschrieben: auf der Höhe zeitgenössischer Diskurse und mit einer sprachlichen Eleganz, die unprätentiös jeglichen Jargon vermeidet.
Das Buch setzt mit einer Lobpreisung ländlicher und sonstiger Kleingemeinschaften ein, die den Leser ob so viel Gemeinschaftspathos den Kopf schütteln lässt. Aber gleich darauf, mit Beginn der "ursprünglichen Akkumulation" des Kapitals und der Industrialisierung, ändert sich der Ton radikal. Und nun versteht man erst, wozu Bauman die Romantisierung der Gemeinschaftsvorstellung dient: Er weist sie als unstillbare, immer wiederkehrende Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit aus. Die Urszene der Industrialisierung erscheint da wie eine Erbsünde, die uns endgültig aus dem Paradies der Gemeinschaften vertrieben hat. In dem epischen Konflikt zwischen Schutz und Freiheit ist die "Suche nach Sicherheit" ein bleibendes gesellschaftliches Movens.
Und dann kommt ein furioses Kapitel über die heutigen Eliten. Diese bestimmen sich wesentlich dadurch, dass sie die "Geschichte der großen Bindungen der Moderne, das Abenteuer der sozialen Lenkung durch Manager und Ingenieure" - vom Taylorismus bis zum Fordismus - hinter sich gelassen haben. Die heutigen Eliten haben kein Interesse mehr daran, andere zu regulieren, so Baumans Definition von Deregulierung. Wir haben es mit einer "Sezession der Erfolgreichen" zu tun. Statt zu herrschen, haben sie sich für die Abspaltung entschieden, statt die Massen zu binden, haben sie sich von ihnen verabschiedet. Sie haben sich zurückgezogen in die Exterritorialität eines elitären Kosmopolitismus, in "eine soziokulturelle Blase" zwischen Tokio, New York, London und Los Angeles. Sie bilden nur noch wechselnde "ästhetische Anlassgemeinschaften". Und da wird deutlich, dass der Gemeinschaftsbegriff an die Stelle eines ganz anderen Begriffs tritt: er ersetzt die Kategorie "Klasse". Die flexiblen Eliten sind so individualisiert, dass sie nicht mehr als Klasse bestimmt werden können, was ja einen gewissen Grad an Kollektivität voraussetzt, sondern nur noch als "Gemeinschaft der Nichtzugehörigen, als Vereinigung der Einzelgänger".
Was dieser Elite gegenübersteht, ist kein Proletariat, keine Klasse der Ausgebeuteten und Unterdrückten. In unserer "liquiden Moderne" ist auch die Masse zu keiner dauerhaften Gemeinschaftsbildung, die ein politischer Akteur brauchen würde, mehr fähig. Gemeinschaft wird im Verlauf des Buches immer mehr zu einer Kategorie, die ihre eigene Abwesenheit markiert.
Aber was ist mit den ethnischen Gemeinschaften? Sind das etwa keine Gemeinschaften? Sind das etwa keine politischen Akteure, die um ihre Anerkennung kämpfen? Bauman antwortet mit einer vehementen Abrechnung mit dem Multikulturalismus. Er sieht sehr wohl die Notwendigkeit solcher Kämpfe um Anerkennung, aber gleichzeitig warnt er vor der Verabsolutierung der kulturellen Differenzen. Reine Identitätskämpfe sind für den 83-jährigen jüdischen Polen Bauman gar nicht so demokratisch, wie das die Kulturlinke seit den 70er-Jahren behauptet. Sie verbergen vielmehr einen fundamentalistischen Zug, wenn sie nur als Selbstverwirklichung betrieben werden. Solche Identitätskämpfe sind für ihn nur dann emanzipatorisch, wenn sie im Kontext von Umverteilung geführt werden. Und hier sind wir bei Baumans zentralem Credo angelangt: Gerechtigkeit lässt sich heute nur dann erzielen, wenn sie sich auf soziale Gerechtigkeit beruft. Nur in der Verbindung mit Verteilungsgerechtigkeit führen Forderungen nach Anerkennung zu dem, worum es Bauman zu tun ist und woran es heute mangelt: zu einer "ethischen Gemeinschaft", die sich durch Gleichheit der Ressourcen und durch kollektive Absicherung gegen individuelle Defizite und Schicksalsschläge auszeichnet.
Spätestens hier wird klar, warum der Mangel an Jargon zu loben ist. Denn was Bauman hier vorlegt, ist ein Pamphlet gegen die Kulturlinke, das nicht hinter deren Errungenschaften zurückfällt. Ohne erhobenen Zeigefinger, ohne den Duktus der dogmatischen Linken und mit größtem Verständnis für gegenwärtige Lebensformen gibt er eine eindeutige Stellungnahme für soziale Gerechtigkeit ab. Ein wirklich lesenswertes Buch.
Zygmunt Bauman: "Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt". Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2009, 180 Seiten, 12 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!