Gemeinsamer Aufruf von Finanzexperten: Krise doch zu etwas nutzen
Europäische Wissenschaftler fordern eine bessere Kontrolle der internationalen Finanzmärkte - und wollen sogar an der freien Beweglichkeit des Kapitals in der EU rühren.
BERLIN taz Finanzexperten veröffentlichen derzeit in diversen Ländern der EU einen gemeinsamen Aufruf. Angesichts der momentanen Krise sei die Öffentlichkeit sich des Problems bewusst genug für eine breite Wirkung des Appells, so ihre Hoffnung. In Deutschland erscheint der Aufruf in der taz. "Die Veröffentlichung ist ein erster Vorstoß", so Frédéric Lordon von Nationalen Forschungszentrum CNRS in Straßburg. "Wir werden nun linke Politiker und Gewerkschaften ansprechen. Sie sind eingeladen, sich dem Aufruf anzuschließen", sagt er.
Warum gerade die Kritik an den Artikeln 48 und 56 der aktuellen EU-Verträge? Dazu Mitunterzeichner Peter Wahl, Mitarbeiter bei der Entwicklungsorganisation Weed und Mitgründer von Attac Deutschland: "Das Kapital bewegt sich heutzutage per Mausklick von einem Land zum anderen. Diese ,Freiheit' führt dazu, dass sehr schnell Ungleichgewichte und Schocks entstehen. Darüber hinaus ist Kapitalflucht möglich." Mit der Änderung der Artikel sollen der Politik dabei Handlungsmöglichkeiten geschaffen werden. Derzeit ist mit dem Artikel 56 die freie Beweglichkeit des Kapitals eines der Grundrechte des EU-Vertrags von Lissabon. Wahl: "In den alten Römischen Verträgen war noch ausdrücklich festgelegt, dass Kapitalverkehrskontrollen in bestimmten Fällen möglich sind."
Weil der Lissaboner Vertrag in Deutschland noch zu ratifizieren ist, kann hier Druck entwickelt werden. "Der Artikel 56 sollte ganz gestrichen werden", fordert Wahl. Das sei kein Hirngespinst: Er sieht nicht nur das Erstarken der Linkspartei in Deutschland als einen Faktor. Auch in der Finanzgemeinde hätten viele Leute kalte Füße bekommen, denen man es gar nicht zugetraut habe. "Die haben gesehen, wie gefährlich das ganze System geworden ist, und plädieren für eine stärkere politische Regulierung der Finanzmärkte", sagt Wahl.
Zum Artikel 48: Er garantiert die Freiheit der Niederlassung nicht nur für Private, sondern auch für Firmen oder Finanzdienstleister. Damit kann sich etwa ein Finanzdienstleister aus Deutschland ohne Beschränkungen in Irland niederlassen. "Das war genau das Problem der Sächsischen Landesbank", so Wahl. "Deren Tochter dort hat riskante US-Kredite gekauft und ist pleitegegangen." Die Niederlassung der Finanzdienstleister müsse deshalb so reguliert werden, dass alles transparenter laufe, Steuerhinterziehung und Steuerdumping verhindert würden.
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