Gemeinde im Wedding: Heikle Mission
Im Wedding hat das Modell Volkskirche ausgedient. Mit gezielten Angeboten will eine Gemeinde retten, was zu retten ist.
Sonntag, 10 Uhr, Badstraße Ecke Pankstraße. Der Glockenschlag der St.-Pauls-Kirche übertönt das bisschen Verkehrslärm auf der sonntäglich ruhigen Kreuzung. Den trutzigen Schinkelbau von St. Paul umgibt ein hoher Zaun, doch die Tür der Kirche im nordöstlichsten Zipfel des Weddings steht weit offen. Immerhin knapp 40 Menschen wollen die Predigt von Pfarrer Andreas Hoffmann hören, und als der Pfarrer seiner Gemeinde Kelch und Hostie zum Abendmahl austeilt, sieht er sogar in das ein oder andere junge Gesicht.
Ein eigentlich schönes Bild, das sich aber trübt, wenn Pfarrer Hoffmann anfängt, Zahlen auf den Tisch zu legen. Da wären zum Beispiel die Konfirmanden: Die gibt es fast nicht mehr in der Kirchengemeinde An der Panke, einer Fusion der bis 2007 eigenständigen Gemeinden St. Paul, Stephanus und Martin Luther Pankow-West. Knapp 70 Einladungen hätten er und sein Kollege, Pfarrer Michael Glatter, dieses Jahr verschickt. "Eine Familie hat reagiert", sagt Hoffmann. "Aber als die gemerkt haben, dass sie ganz alleine gekommen sind, habe ich sie ermutigt, ihr Kind nach Pankow in den Konfirmandenunterricht zu bringen. Da sind die Gruppen größer."
Pfarrer Hoffmann erinnert sich, wie er vor 25 Jahren "als ganz junger Pfarrer" um die 200 Konfirmanden in St. Paul eingesegnet habe: "Früher war man entweder evangelisch oder katholisch. Heute gibt es, wie beim Fernsehen auch, nicht mehr nur zwei Programme zur Auswahl, sondern ganz viele."
Einen generellen Trend zum Atheismus oder zu anderen Glaubensrichtungen in Deutschland bestätigt auch eine Studie von 2010, die das Statistische Bundesamt in Wiesbaden veröffentlicht hat: Die rückläufigen Mitgliederzahlen der beiden Volkskirchen bewirkten, dass 2008 der Anteil der evangelischen und katholischen Bevölkerung bei jeweils nur noch knapp 30 Prozent lag, der Anteil der nicht- oder andersgläubigen dagegen bei insgesamt rund 40 Prozent. 1990 machte letztere Gruppe noch lediglich 28 Prozent an der Gesamtbevölkerung aus. Hinzu käme ein simpler demografischer Faktor, ermittelte die Studie: die Überalterung der Gesellschaft. Es würden schlicht mehr Kirchenmitglieder sterben als neue potenzielle geboren.
Die einen glauben an gar nichts mehr, die anderen an was anderes: Nach Angaben des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg kommen 50 Prozent der Einwohner im Wedding aus einem islamisch geprägten Land - vor allem aus der Türkei, aus den arabischen Ländern, aus dem Libanon. Das macht das Potenzial der neu zu rekrutierenden Kirchenmitglieder im Wedding ohnehin recht überschaubar. "Das Christentum als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit wird nicht wiederkommen - und die Kirche tut sich schwer damit", sagt Pfarrer Hoffmann.
Ein Thema, das auch auf der alljährlichen Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im November in Magdeburg im Zentrum stand. Dort wollte man "Impulse" geben für eine Kirche im Aufbruch, die sich angesichts seit Jahren schwindender Mitgliederzahlen etwas einfallen lassen muss. Bei der abschließenden Kundgebung zur Synode bemühte man sich, ein schwieriges Konzept wieder salonfähig zu machen: die Mission. In dem Papier der Abschlusskundgebung heißt es, die protestantische Kirche müsse wieder stärker theologisch werden, sich auf ihre eigentliche Botschaft besinnen, nämlich das Evangelium zu verkünden.
In Berlin hatte die evangelische Kirche Ende vergangenen Jahres noch 660.000 Mitglieder - nur rund jeder vierte Bewohner gehörte ihr an. Noch schlechter steht - das hat Tradition in der Stadt - die katholische Kirche da: Sie zählte rund 320.000 Mitglieder. Kaum mehr, als es Muslime gibt: Laut Jahrbuch des Statistischen Landesamts gehörten Ende 2009 zur Islamischen Gemeinde 249.000 Menschen. Die Jüdische Gemeinde wiederum zählt rund 11.000 Mitglieder.
Christof Theilemann, als Landespfarrer beim Berliner Missionswerk für die Bereiche Ökumene und Weltmission zuständig, versteht das so: "Die Kirche muss ihre Mitglieder sprachfähig für ihren Glauben machen." Schließlich sei in der protestantischen Kirche "jeder so etwas wie ein Priester". Offen und dialogisch sahen auch die Kirchenparlamentarier der EKD-Synode in ihrem Abschlusspapier die missionarische Kirche im 21. Jahrhundert. Das klingt so schön wie vage. Doch wie lässt man aus einem Konzept Taten werden?
Ein Freitagnachmittag im Gemeindehaus Martin Luther an der Wollankstraße. Pfarrer Glatter sitzt inmitten des Seniorenkreises seiner Gemeinde und auf verlorenem Posten. 13 ältere Männer und Frauen, vor allem Frauen, haben sich hier wie jede Woche zum Kaffeeklatsch getroffen, sie knabbern Salzstangen, essen Kekse und teilen Glatter ihr Missfallen über den letzten Taufgottesdienst mit. Die vielen Kinder hätten gestört, meint die 87-jährige Ingeborg. Die Runde nickt zustimmend. Pfarrer Glatter gibt zu bedenken, dass ein Kindergottesdienst mangels Nachfrage eingestellt wurde und ein Gottesdienst auch fröhlichen Charakter besitzen dürfe. Doch es nützt nichts: "Entweder die Kinder oder ein anderer Teil der Gemeinde bleibt weg", sagt Ingeborg. Es klingt wie eine Drohung.
Pfarrer Hoffmann nennt das vorsichtig "eine gewisse Wagenburgmentalität der Senioren hier". Leider passt die so gar nicht zu der "Willkommenskultur", mit der die beiden Pfarrer auch junge Familien für die Kirchengemeinde begeistern wollen. Im August etwa organisierte Pfarrer Glatter ein Tauffest in der Panke, dem kleinen Flüsschen, das sich durch die Gemeinde schlängelt. Die Resonanz war gut, auch hinterher gab es noch einige Taufanfragen. Aus dem Seniorenkreis gab es jedoch Widerstand: Zu modern, zu missionarisch sei das Ganze. Dabei ist die Kirchengemeinde dringend auf Nachwuchs angewiesen: Die Seniorenkreise seien überaltert, sagt Pfarrer Hoffmann, "zudem sind wir hier eine Gemeinde von Singles". Junge, christliche Familien zögen weg, sobald die Kinder schulpflichtig würden - eine Weddinger Schule wollen viele Eltern nicht für ihr Kind.
Dieses soziale wie gesellschaftspolitische Problem kann auch eine engagierte kirchliche Jugendarbeit nicht lösen. Auch nicht die von Ulrike Brödler. Nach der Gemeindefusion 2007 hat die Sozialpädagogin und gebürtige Weddingerin den Jugendkeller in der Martin-Luther-Gemeinde aufgebaut: "Das sollte ein niedrigschwelliges Angebot sein: Tischtennis, Billard, Kicker. Vielleicht ein bisschen thematisches Arbeiten." Der Jugendkeller sei gut frequentiert worden, sagt Ulrike Brödler, "statt draußen rumzuhängen kamen viele Jugendliche hierher - die Konfession hat da eigentlich keine Rolle gespielt". Heute, vier Jahre später, sind die Jugendlichen wieder weg. "Die Offenheit des Jugendkellers wurde leider auch ausgenutzt", sagt Brödler und seufzt. Einmal war das Geld in der Kasse weg; als sie ein anderes Mal körperlich angegangen wurde, war Schluss. "Wer im Jugendkeller mitmachen wollte, sollte mir Namen und Adresse geben und ich wollte die Eltern kennen lernen", sagt Brödler. Seitdem ist es wieder ruhig geworden im Martin-Luther-Gemeindehaus.
Was in der Jugendarbeit bisher nicht geklappt hat, funktioniert immerhin in anderen Bereichen der Gemeindearbeit An der Panke. Bei "Laib und Seele", einer Kooperation der Berliner Tafel und der Kirchengemeinden, versammeln sich jeden Samstag um die 300 Bedürftige in St. Paul, um sich mit Gemüse, Obst und Grundnahrungsmitteln zu versorgen. "Viele werden selbst irgendwann aktiv und helfen bei der Ausgabe der Lebensmittel mit, obwohl sie mit Kirche sonst oft gar nicht so viel am Hut hatten", sagt Pfarrer Glatter.
Und es wird vielleicht an weiteren Stellen funktionieren, an denen es durchaus ein wenig nach Aufbruch aussieht. Der Kirchengemeinderat hat sich auf offene Projektstellen des Kirchenkreises beworben, es soll eine weitere Seniorengruppe gegründet werden, die auch jüngere Senioren anspricht. "Das Gros unserer 6.000 Gemeindemitglieder sind Singles zwischen 60 und 70 - die wollen mehr als Kaffeeklatsch. Und die wollen wir erreichen", sagt Pfarrer Hoffmann.
Auch die jungen Gesichter in den hinteren Reihen des Sonntagsgottesdienstes seien ein Trend in seiner Gemeinde, sagt der Pfarrer optimistisch: "Seit etwa zwei Jahren kommen wieder vermehrt Studenten und junge Familien mit Kindern." Die wolle man abholen, sagt Kollege Glatter. "Wir haben eine Spiel- und Mal-Ecke im Gottesdienst eingerichtet und auch viel Arbeit in eine ansprechende Gemeindezeitung gesteckt." Ab Januar wird es Pekip-Kurse für Babys und deren Eltern geben - potenzieller Nachwuchs für Ulrike Brödler und ihren Jugendkeller.
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