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Geistig-moralische Nachhut

betr.: „Die große Geste des alten Mannes“ (Schulderklärung des Papstes), taz vom 13. 3. 00

„Die geistig-moralische Führerschaft in der Welt übernehmen“ will die katholische Kirche? Es wäre schon etwas gewonnen, wenn sie der Moral vieler weltlich denkender Menschen nicht ganz so weit hinterherhinken würde.

Zum Beispiel in der Frage der Toleranz: Toleranz heißt nach Meinung vieler weltlich denkender Menschen: „Niemand darf wegen (...) seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ (aus Artikel 3 GG). Auch dann nicht, wenn er sich um einen Arbeitsplatz bewirbt – sofern es sich nicht gerade um einen Arbeitsplatz als Geistlicher, Religionslehrer oder dergleichen handelt. Aber in vielen kirchlichen Einrichtungen wird auch Krankenschwestern, KindergärtnerInnen, AltenpflegerInnen oder TherapeutInnen die Einstellung verweigert, wenn sie nicht der „richtigen“ Kirche angehören.

Die vielerorts marktbeherrschende Stellung der Kirche als Arbeitgeber in diesem Bereich führt dazu, dass Nichtkirchenmitglieder dieser Berufsgruppen kaum Aussicht auf Arbeit in ihrem Beruf haben, teilweise nicht einmal auf irgendeine Arbeit. Die Kirche bedroht Andersdenkende heutzutage zwar nicht mehr mit Folter und Tod, wohl aber mit faktischen Berufsverboten und mit Arbeitslosigkeit.

Auch in der Verantwortung für Hungernde hat die katholische Kirche einen Nachholbedarf. Ihre Polemik gegen Empfängnisverhütung trägt dazu bei, dass Frauen in der Dritten Welt Kinder zur Welt bringen, die sie nicht haben wollten und die sie nicht ausreichend versorgen können. Solche Kinder sterben vielfach an Krankheiten, die sie bei besserer Ernährung leicht hätten überstehen können. Die katholische Kirche macht sich mit schuldig am Tode dieser Kinder.

Ebenso macht die katholische Kirche sich mit schuldig am Tode von Menschen, wo ihre Polemik gegen Kondome diese Aids-Prophylaxe in Misskredit bringt und dazu führt, dass viel zu viele Menschen durch ungeschützten Verkehr sich und ihre Partner in Lebensgefahr bringen.

Solange die katholische Kirche nicht mehr Verantwortungsbewusstsein beweist gegenüber Menschen, die von Hunger, Elend und tödlicher Krankheit bedroht sind, muss sie sich zur geistig-moralischen Nachhut zählen lassen.

IRENE NICKEL, Braunschweig

Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.

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