: Gehirne anzapfen
■ Der erste Altenaustausch Salford-Berlin
In geheimer Mission flögen fünfzehn Personen nach Berlin, schrieben die 'Manchester Evening News‘ am Vorabend des Unternehmens. Zweck der Reise: die »Geheimnisse eines fröhlichen Ruhestands« für Salfords ältere Bevölkerung auszuspionieren. Das mag Sinn machen in jenem 20.000-Seelen-Vorort der Industrieruine Manchester und unter der Fuchtel der eisernen Lady. Vorläufiges Ergebnis der Forschungen: »Die Probleme, die die Alten hier haben, sind die gleichen wie überall auf der Welt. Es gibt genauso arme Rentner hier wie in Großbritannien«, meint Joan Hall, pensionierte Krankenschwester und Aktivistin einer politischen Kampagne, die in England für eine Verbesserung der Altersversorgung kämpft.
Nicht um dieser Erkenntnis wegen waren die zwölf Frauen und drei Männer in Begleitung der anglisierten Sozialarbeiterin Ursula Sosalla am Samstag vor einer Woche in Berlin eingeflogen, sondern, so gaben sie freimütig gegenüber einer Seniorengruppe zu, »to pick up your brains«. »Wir kamen mit der Idee hierher, in Salford ein Altenwerkstättenprojekt und vielleicht ein Bildungszentrum zu gründen. Wir wollten wissen, wie man an's Geld kommt, wie man sich organisiert, wer daran noch beteiligt ist und viele andere Aspekte«, erzählt Joane Hall. Eine Woche lang inspizierte man zu diesem Zweck die Altenprojekte der Stadt: die Wissensbörse, das Sozialwerk Berlin, das Nachbarschaftsheim Urbanstraße und nicht zuletzt das Werkhaus Anti-Rost, Vorbild für ein eigenes noch im Aufbau befindliches »Anti-Rust-Projekt« in Salford. Im Werkhaus betreiben Senioren Werkstätten für Senioren: In Druckerei, Tischlerei, Fotowerkstatt, Schneiderei und Cafe bieten die einen Arbeits- und Lebenserfahrungen an, die andern erwerben neue Fähigkeiten.
Im Werkhaus residieren auch die »Seidenraupen«, die die Salford- Gruppe in die Geheimnisse der Seidenmalerei einführten (und auch die Männer malten mit). Am Freitag wurde man schließlich im Seniorenklub des Wilmersdorfer Bockelmann-Altenheims von der Altengruppe »Geistig fit bis ins hohe Alter« empfangen. In lustigen Spielen hieß es, sich mit Wollknäueln zu vernetzen oder mit englisch-deutschen Sprachübungen landeskundliche Eigenarten erforschen: Daß »plumbs« in England sauer sind, lernt man schneller pantomimisch. Ausscheiden mußte dagegen, wer im Augenblick höchster Konzentration jahrelang eingeübte Verhaltensmuster wie zum Beispiel Knäuelaufwickeln, »damit niemand hinfällt«, wieder reproduzierte.
Beim Kennenlernen entpuppten sich die Salforder als gemischte Kampfgruppe. Die schon erwähnte Joan ist in vielfältigen Aktivitäten verstrickt: als ehemalige Gewerkschafterin engagiert sie sich für die Interessen der in Rente gegangenen Arbeiter, zusammen mit ihrer Ex- Kollegin Margery sitzt sie in einer Pressure Group ehemaliger Krankenschwestern. Tom arbeitet noch in der Fabrik und interessiert sich für ein Modell, wie man die Erfahrungen der Älteren für die Jüngeren nutzbar machen könnte, wovon wiederum die »working class« profitierte (Ein solches Modell existiert in Berlin in Form der »Wissensbörse«). Shirley schließlich ist in der Altenpflege beschäftigt.
Die Idee zum Aufbau eines Anti- Rust-Projekts und die einwöchige Informationstour geht auf die private Initiative der Sozialarbeiterin Ursula Sosalla zurück. In Berlin warb ihre Kollegin Almut Stackmann, die im vier Jahre bestehenden senatsgeförderten Praxisprojekt »Erfahrungswissen älterer Leute nutzen« für die Koordination und Vernetzung der Berliner Altenprojekte zuständig ist, um aufnahmewillige Senioren und fand sie in einer Englisch-Konversationsgruppe.
Mit der Heimreise der Salforder am Sonntag ging somit ein bisher einmaliges Altenaustausch-Experiment zu Ende. »Nicht jede wollte jemand aufnehmen, manche hatten wohl Scheu oder Angst, es würde ihnen zuviel werden«, erzählt Almut Stackmann. Dafür hätte sich gezeigt, daß die Zögerer um so eifriger die Heimwege der Engländer überwacht und die Gruppe täglich begleitet und unterstützt hätten. Die Salforder jedenfalls waren von ihren Gastgebern und den Erlebnissen der Woche begeistert und vermissen nicht nur die Cremetörtchen: »Wir fahren heim mit wunderbaren Erinnerungen und mit einer Menge lehrreicher Erfahrungen.« Nächstes Jahr dürfen dann die Wilmersdorfer die Geheimnisse der Manchester-Kapitalismus erfahrenen Klassenältesten mit nach Hause nehmen. Doroh
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