Geheimprotokoll zu Gorleben: Kalter Krieg ums Endlager
Bislang streng geheime Kabinettsprotokolle belegen: Bei der Standortwahl von Gorleben spielten geologische Aspekte fast keine Rolle – die Religion der Anwohner umso mehr.
Seit 33 Jahren gilt Gorleben als künftiger Standort des deutschen Endlagers für hochradioaktiven Müll. Eineinhalb Milliarden Euro sind dort im Salz versenkt worden: beim "Erkundung" genannten Bau eines Endlagerbergwerks und beim Aufrechterhalten des Bergwerksbetriebes. Die Bundesregierung will das Bergwerk nun schnell weiter ausbauen. Die Bürgerinitiative (BI) Lüchow-Dannenberg nennt die Grube im östlichsten Zipfel Niedersachsens hingegen "Investitionsruine".
Im Dunkeln lag aber immer, warum gerade der Salzstock Gorleben am 22. Februar 1977 vom damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU) als Entsorgungsstandort ausgewählt wurde. Auf Druck des Landtags wurden nun alte Kabinettsvorlagen zugänglich gemacht. Einsehbar sind zudem Dokumente einer interministeriellen Arbeitsgruppe, die 1976 aus 140 niedersächsischen Salzstöcken den angeblich geeignetsten Standort auswählte. Der taz liegen die bislang streng vertraulichen Unterlagen vor. Sie zeigen: Die Geologie, die für die Auswahl eines Standorts für ein Endlagerbergwerk entscheidend sein sollte, spielte allenfalls am Rande eine Rolle. Ministerpräsident Albrecht behandelte das geplante "Nukleare Entsorgungszentrum", das damals noch aus Wiederaufarbeitungsanlage (WAA), diversen Zwischenlagern und Endlager bestehen sollte, als gigantische Industrieansiedlung, die ein strukturschwaches Gebiet beglücken konnte. Den Ausschlag für den damals nur vier Kilometer von der DDR-Grenze entfernten Salzstock Gorleben gab ein Streit zwischen Albrecht mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD).
Der Bund sah das nukleare Entsorgungszentrum als zivil-militärische Anlage an. Nach einem Treffen hochrangiger Beamter aus sieben Bundes- und Landesministerium verlangte die niedersächsische Seite im Oktober 1976 in einem Vermerk zur "Bedeutung des Entsorgungszentrums" die "Präzisierung der Bundesaussage, dass eine Entsorgungsanlage nicht nur wirtschaftlich notwendig, sondern auch sicherheitspolitisch unbedingt erforderlich ist".
Das im Atomkonsens vereinbarte 10-jährige Gorleben-Moratorium läuft Ende September aus.
Bürgerinitiative: Die BI Lüchow-Dannenberg hat schon eine Klage gegen eine weitere Verlängerung des aus dem Jahr 1983 stammenden "Rahmenbetriebsplans" angekündigt. Allwöchentlich ziehen derzeit AKW-Gegner zum Gorlebener Bergwerksgelände. Die BI plant u. a. für den 4. Juni, den 30. Jahrestag der spektakulären Räumung der "Republik freies Wendland", eine Umzingelung der Gorlebener Atomanlagen. Die BI-Vorsitzende Kerstin Rudek rechnet zudem "mit den größten Protesten in der Geschichte der Castortransporte" beim nächsten Castortransport im November.
Untersuchungsausschuss: Die AKW-Gegner hoffen zudem auf Unterstützung durch die Oppositionsfraktionen des Bundestags. SPD, Grüne und Linke im Bundestag wollen mit einen Untersuchungsausschuss verhindern, dass die Bundesregierung unter dem Deckmantel der weiteren Erkundung den Endlagerbau in Gorleben fortsetzt. Der Ausschuss soll klären, wie es in den 70ern "überhaupt zur Auswahl Gorlebens als Endlagerstandort kam, ob Kritik an der mangelhaften Geologie des Salzstocks unterdrückt wurde und warum man nie Alternativen untersuchte. "Wir wollen überprüfen, inwieweit es bei der Auswahl und Erkundung des Standorts zu Fehlentscheidungen kam und wer hierfür die Verantwortung trägt", sagt die Atomexpertin der Grünen-Bundestagsfraktion, Sylvia Kotting-Uhl. Nach Angaben von SPD-Fraktionsvize Ulrich Kelber wird der gemeinsame Antrag derzeit noch von Juristen überarbeitet. Auch Kelber will klären, ob der Endlagerstandort Gorleben nach wissenschaftlichen oder nach politischen Kriterien ausgewählt wurde und ob dabei internationale Standards eingehalten wurden.
Die Bundesregierung befürchtete, dass die Auswahl des grenznahen Gorleben "Schwierigkeiten für die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR aufwerfen könnte". Der Bund hielt für eine WAA in Grenznähe gemeinsame Notfall- und Katastrophenschutzpläne mit der DDR für erforderlich und sah einen innerdeutschen "Zwang zu vertraglichen Vereinbarungen einschließlich finanzieller Konsequenzen". Im Klartext: Man fürchtete Geldforderungen der chronisch klammen DDR.
Hinzu kamen handfeste militärische Bedenken gegen eine DDR-nahe Plutoniumfabrik. "Die Bundesressorts sind der Auffassung, dass ein Entsorgungslager auf dem Salzstock Gorleben von der DDR durch eine ,Handstreichaktion' unterhalb der Schwelle der kriegerischen Auseinandersetzungen in Besitz genommen werden könnte", heißt es in einer Kabinettsvorlage. Der Bund prüfe, ob die Möglichkeit einer Handstreichaktion "wegen des eventuell strategisch bedeutsamen Materials in dem Entsorgungszentrum eine Einschaltung der Nato erfordere".
Der Bund trug seine Bedenken gegen Gorleben seinerzeit mehrfach bei Ministertreffen vor. Am 11. Februar 1977 trafen sich auch Ministerpräsident Albrecht und Kanzler Schmidt zum Gespräch. "Ich habe ferner nachdrücklich auf die Bedenken der Bundesregierung gegen den Standort Gorleben hingewiesen", schrieb Schmidt danach.
Die Mahnungen der sozialliberalen Bundesregierung blieben ohne Wirkung. Kurz vor der öffentlichen Bekanntgabe informierte Albrecht den Landesenergiebeirat über die Entscheidung für Gorleben. Nach Angaben des Geologen Gerd Lüttig stellte der CDU-Politiker dabei die Wahl Gorlebens als Retourkutsche für das ebenfalls direkt an der Grenze gelegene DDR-Endlager Morsleben dar. Albrecht habe sinngemäß gesagt: "Die ärgern uns doch mit Morsleben, ich gehe in Gorleben auch an die Zonengrenze, und da werden sich die in der Ostzone richtig ärgern", erinnert sich der 83-jährige Lüttig.
Professor Lüttig war als Vizepräsident der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe und des Niedersächsischen Landesamts für Bodenforschung damals der ranghöchste Geologe des Landes. Albrecht habe seinerzeit vor dem Energiebeirat als weiteren Grund für die Wahl Gorlebens die Strukturschwäche des Zonenrandgebietes genannt. Er selbst habe dann auf geologische Mängel des Gorlebener Salzstocks hingewiesen, sagt Lüttig. "Ich sagte: Gorleben gehört gar nicht zu den Standorten der ersten Kategorie. Er antwortete nur: Ihr Geologen kommt auch noch dran."
Für das geplante Nuklearzentrum gab es in den 70er-Jahren gleich zwei Auswahlverfahren. Im ersten begutachteten der Geologe Lüttig und Rudolf Wager im Auftrag des Bundes und der Kernbrennstoff-Wiederaufarbeitungs-Gesellschaft (Kewa) mögliche Standorte. Das zweite mit dem Ergebnis Gorleben führte ganz im Stillen die erwähnte interministerielle Arbeitsgruppe der niedersächsischen Landesregierung durch. Beide Auswahlverfahren beschränkten sich auf Salz als Endlagermedium, was heute nicht mehr statthaft wäre. Zudem suchte man in beiden Verfahren vordringlich einen Salzstock, über dem auch das Entsorgungszentrum Platz hatte. Lüttig veranschlagte dafür eine Fläche von 8, die interministerielle Arbeitsgruppe sogar eine von 12 Quadratkilometern. Die obertägigen Anlagen des Erkundungsbergwerkes Gorleben bedecken heute eine Fläche von gut 30 Hektar, also rund ein Vierzigstel des damals gesuchten Areals.
Lüttig führte das Auswahlverfahren in den Jahren 1972 bis 1975 durch und bezog dabei nach eigenen Angaben bundesweit 250 Salzstöcke ein. Schon damals wurden die möglichen Standorte mithilfe eines Fragenkatalogs keineswegs nur geologisch beurteilt. "Da wurde auch noch nach der Religion der Anwohner gefragt und ob sie mal aufmüpfig waren bis zurück zum Bauernkrieg", erinnert sich Lüttig. Angesichtes geologischer Probleme "war Gorleben am Ende nicht dabei", berichtete Lüttig. In der Nähe habe man leicht wasserlösliches Karnalit gefunden und es sei zu Ablaugungen der Salzstockoberfläche gekommen.
Bei Lüttigs und Wagers Auswahlverfahren blieben am Ende drei Standorte in Niedersachsen übrig, die durch Bohrungen weiter exploriert werden sollten. Nachdem Albrecht im Februar 1976 mithilfe von Überläufern aus der zuvor regierenden SPD/FDP-Koalition überraschend zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, stoppte er die Bohrungen.
Zugleich wurde schon im März 1976 die interministerielle Arbeitsgruppe eingesetzt, die dann das zweite rein niedersächsische Auswahlverfahren oder, richtiger, Ausschlussverfahren durchführte. Von 140 niedersächsischen Salzstöcken schlossen die Beamten 117 wieder aus, weil es über diesen keinen Platz für ein 12 Quadratkilometer großes Atomzentrum gab.
Die verbleibenden Standorte bewerteten die Beamten mithilfe einer Punktetabelle, die sehr auf die Wiederaufarbeitungsanlage zugeschnitten war: Nur maximal 32 von 266 erreichbaren Punkten entfielen auf die Geologie des Salzstocks. Ansonsten gab es etwa Punkte für Wasserversorgung, Verkehrsanbindung, geringe Gebietsnutzung, geringes Einkommen, hohe Arbeitslosenquote, Abwesenheit von Luftverkehr oder für Erdbebensicherheit. Die beiden geologischen Kriterien "Salzstockteufenlage" und "Zentralität", die 12,8 Prozent der Gesamtpunktzahl ausmachten, waren sehr allgemein: Der Salzstock durfte nicht zu tief und das WAA-Gelände musste zentral über ihm liegen. Mithilfe der Punktebewertung identifizierten die Beamten sieben mögliche Standorte. Bis auf Gorleben fanden laut den Dokumenten alle Standorte die Zustimmung des Bundes.
Praktisch keine Einwände hatten die Beamten gegen Lichtenhorst am Rande der Lüneburger Heide. Beim Standort Gorleben problematisierte die letzte und entscheidende Kabinettsvorlage ein eventuelles Gasvorkommen unter dem Salzstock, das vielleicht auch die DDR ausbeuten könne. "Ausgesprochen vorteilhaft" fand sie, dass sich in Gorleben die 12 Quadratkilometer große Fläche "im Wesentlichen im Eigentum eines Eigentümers befindet". Dieser, Andreas Graf Bernstorff, ist allerdings bis heute Gegner der Gorlebener Atomanlagen und hat nie verkauft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was