Geheimnisvolles Symbol: Die Mauer der Zyklopen
Sie steht seit 4.000 Jahren in der italienischen Ciociaria. Aus Müll hat sie der Künstler Fausto Roma nachgebaut, als Hommage an seine Heimat
Die Ciociaria erreicht man von Rom oder Neapel aus mit der Bahn. Übernachten kann man auf Landgasthöfen (www.agriturismociociaria.it).
Bei Alatri gibt es eine idyllisch gelegene Jugendherberge (Le Fraschette, Tel.: 00 39-07 75-44 18 52) und in Arpino ein Hotel mit Swimmingpool (www.hotelsunrisecrest.it).
Zu den besten Adressen gehören Il Ciclope in Arpino (Spezialität: das Pastagericht sagne e fagioli), Tel. 00 39-07 76-84 88 09) und Rosetta in Alatri, bekannt für ihre maccheroni, Tel.: 00 39-07 75-43 45 68).
Reisebuchungen: www.land-der-zyklopen.de.
Fausto Roma ist in Ceccano geboren - und dort lebt er seit 53 Jahren. Um Ideen zu haben, muss er nicht weit reisen. Die nötige Inspiration holt er sich aus der Umgebung, in der er lebt: der Ciociaria, einem Landstrich zwischen Rom und Neapel. Des Künstlers Blick fällt hier auf eine üppige Landschaft mit grünen Schafweiden, Olivenhainen, Seen, Wäldern und verschneiten Berggipfeln im Winter.
Die Bilder und Skulpturen von Fausto Roma sind mit der Geschichte dieser naturschönen wie eigentümlichen Gegend verknüpft. In den 90er-Jahren wurde er mit seinen Totemskulpturen bekannt. Diese sind eine konsequente Folge seiner grellfarbenen Acrylbilder, die häufig archaische Symbole oder Masken darstellen. Das ist kein Zufall. Die Geschichte - auch die, die sehr lange zurückliegt - ist in der Ciociaria überall präsent. Nur hier finden sich auf dem italienischen Festland noch Überreste eines Volkes, das vor rund 4.000 Jahren auf der Halbinsel gelandet ist: antike Gemäuer, die die Leute aus der Gegend aufgrund der gigantischen Steinblöcke, mit denen sie gebaut wurden, bis heute Zyklopenmauern nennen. Historiker vermuten, das diese architektonischen Wunderwerke zirka 1900 v. Chr. von dem Volk der Pelagi, denen man auch den Bau der sardischen Nuraghen zuschreibt, errichtet wurden. Der Name bedeutet so viel wie "die, die aus dem Meer kommen", und wahrscheinlich handelte es sich um Griechen, die vor den Mykenen fliehen mussten.
Die Zyklopenmauer ist das geheimnisvolle Symbol der Heimat von Fausto Roma. Und sie hat ihn jahrelang beschäftigt. Es war natürlich nicht leicht, sich einem solchen Gigantenwerk zu nähern. Dabei half ihm dann der Chef einer ansässigen Müllverwertungs- und Recyclingfirma. Ihm gefiel die Idee des Künstlers, eine neue Mauer aus zeitgemäßeren Materialien zu bauen: Müll und Metall.
"La Grande Parete" ist bislang Fausto Romas größtes Werk, auch was seine materielle Dimension von sechzehn auf acht Meter betrifft. "Ich möchte die Abschnitte des Lebens, das heißt die wichtigsten Empfindungen, sammeln und erzählen", so der Künstler über die Absicht des Riesenwerkes. Deshalb hat er Coladosen, Plastikdeckel und Mikrochips in transparentes Harz gegossen und dieses in ein schweres Gerüst aus Eisenwaben eingesetzt. Das Projekt wurde der Kunstwelt 2006 im römischen Palazzo Venezia vorgestellt. Jetzt steht das Werk auf dem Firmengelände des Mäzens. Im Sonnenlicht sieht es aus wie ein gigantisches Kirchenfenster. Der sakrale Effekt ist gewollt: "Wenn ich an die architektonischen Meisterwerke der Menschheit denke, dann fallen mir die Pyramiden, die Chinesische Mauer, die Klagemauer und die Zyklopenmauer meiner Ciociaria ein."
Die Zyklopenmauern findet man in fünf Orten: Anagni, Ferentino, Alatri, Arpino und Atina. In Alatri und in Ferentino, wo auch Fausto Romas neue Mauer steht, sind die Reste der antiken Mauer hoch oben über den antiken Stadtzentren am besten erhalten. In Frosinone sind die "Zeitringe" deutlich zu erkennen. Die Basis bildet die megalithische Mauer, dann kommt der römische und ganz oben der mittelalterliche Teil. In Alatri sollte man den Aufstieg zur Akropolis an der zentralen Piazza S. Maria Maggiore beginnen. Hier in der Nähe (Via Roma) befindet sich die kommunale Bibliothek, wo man Auskunft und Lesematerial über das antike Städtchen bekommt.
Hier trifft der Besucher auch Marialinda Figliozzi. Sie recherchiert seit Jahren die Geschichte eines Lagers in der Nähe von Alatri, wo unter Mussolini Partisanen gefangen gehalten wurden. Später diente das Lager, von denen es in der Region mehrere gab, als Unterkunft für Flüchtlinge aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. "Es fing als harmloses Hobby an, jetzt ist die Suche nach überlebenden Zeitzeugen ein Teil meines Lebens geworden", sagt Marialinda. Sie kennt sich aber auch sonst gut aus in ihrer Gegend und rät, zu Fuß zur Akropolis aufzusteigen. Hier stand auf den Zyklopenmauern einst ein heidnischer Tempel. Der musste im 18. Jahrhundert einer Kathedrale weichen. Von hier aus blickt man auf ein großes Tal, das grüne Herz der Ciociaria. Diese ist allerdings kein geografisch definiertes Gebiet. Der Name bezeichnet schlicht die Gegend, in der bis zu Beginn des letzten Jahrhunderts die cioce, Schuhe aus Esels- oder Rinderhaut, getragen wurden.
Zentrum der Ciociaria sind die fünf Städte der Zyklopenmauer, die alle durch eine seltsame Linie verbunden sind. Erst vor einigen Jahren hat ein Angestellter der Provinzverwaltung eine Entdeckung gemacht, die jetzt auch die Archäologen beschäftigt: Die Städte wurden auf der Mittellinie des Sternenbild des Zwillings erbaut. Jede von ihnen entspricht einem Stern. Vielleicht hat Fausto Roma recht, wenn er die Zyklopenmauern mit den Pyramiden oder anderen mysteriösen Bauten vergleicht, die in Beziehung zu den Sternenbildern stehen. Die Mauern wurden immer auf Anhöhen errichtet und umrunden die antike Akropolis. Das ist auch in Arpino so. Hier wird die Steinmauer von einer Pforte in Spitzbogenform unterbrochen. Sie schützt heute einen mittelalterlichen borgo, der immer noch bewohnt ist.
Arpino ist aber nicht nur den Archäologen, sondern auch den Lateinern gut bekannt. Im antiken Arpinum wurde 106 v. Chr. der Philosoph, Schriftsteller und Politiker Markus Tullius Cicero geboren. Ihrem berühmten Bürger widmen die Stadt und ihr Gymnasium jedes Jahr einen besonderen Wettbewerb. Am "Certamen" nehmen Gymnasiasten aus aller Welt teil. Es gilt Ciceros Texte schnell und präzise zu übersetzen und zu kommentieren. "Meistens gewinnen die Deutschen", erzählt Massimo Struffi. Er kümmert sich allerdings weniger um Cicero, sondern vielmehr um einen anderen berühmten Sohn der Stadt: den 1998 verstorbenen Künstler Umberto Mastroianni, Maler und Bildhauer wie Fausto Roma und Onkel des Schauspielers Marcello, der ebenfalls ein waschechter ciociaro ist. Struffi ist Präsident der Stiftung Umberto Mastroianni und hat der Familie im Palazzo Buoncompagni ein kleines Museum eingerichtet. Sein barockes Stadtbild verdankt Arpino den römischen Päpsten und dem neapolitanischen Königshaus, die hier beide lange regierten.
Nach den Päpsten und Königen kam die Industrialisierung in die Ciociaria. Die größten Fabriken siedelten sich in der Provinzhauptstadt Frosinone an. Aber auch in Arpino zeugt das kleine Textilmuseum in der entweihten Kirche San Domenico, in der heute statt Betbänken eiserne Färb- und Webmaschinen stehen, von einer industriellen Tradition. Die Herstellung von Bekleidung und Strickwaren war bis vor wenigen Jahren die Stärke der ganzen Gegend. Heute gibt es nur noch wenige kleine Hersteller. Fausto Roma ist besorgt, das die Handwerkstraditionen aussterben und die antike Identität der Ciociaria verloren geht. Deshalb will er schnell alles lernen, was er noch nicht kann. Dafür baut er sich jetzt ein neues Atelier in Ceccano, das so groß ist wie eine Lagerhalle und in das noch mehr Werkzeug und Maschinen passen. Seine neueste Errungenschaft ist eine Maschine, mit der er seine Zeichnungen auf Tischdecken stickt. Ans Fortgehen denkt er nie. Aber daran, Künstler aus aller Welt zu sich einzuladen. Damit sie verstehen, warum er hier nicht wegkann.
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