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Gegen AfD und BSW Die erste Einwanderungspartei

Bundesminister Cem Özdemir hat eine neue Migrationspolitik vorgeschlagen. Dafür wird er von Grünen Ideale-Wächtern streng kritisiert. Zu Unrecht, findet Udo Knapp.

Verdruckstes Wegsehen will Özdemir nicht mehr tolerieren Foto: picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

taz FUTURZWEI | Der Vater und Politiker Cem Özdemir hat die Alltagserfahrungen seiner Tochter mit sexueller Belästigung durch junge Männer mit Migrationshintergrund bei einem Ausflug zum Anlass genommen, das verdruckste Wegsehen, insbesondere unter seinen politischen Freunden, nicht länger zu tolerieren. In einem Beitrag in der FAZ sieht der Landwirtschaftsminister (Die Grünen) in dieser Ignoranz eine entscheidende Ursache für die zunehmende Zustimmung der Mitte der Gesellschaft zur rechtsradikalen AfD und zum linksnationalistischen BSW.

Beide Parteien sind Feinde jeder Zuwanderung. Özdemir fordert eine positive Wende in der Asyl- und Flüchtlingspolitik. „Es kommen nicht die Verfolgten und Schutzbedürftigen, um Asyl zu beantragen, sondern die starken, jungen Männer“, sagt er und verlangt eine „Grenze zu ziehen zwischen denen, die uns brauchen und denen, die wir brauchen. Wer Schutz braucht, dem helfen wir, wer einen wertvollen Teil zu unserem Leben beitragen kann, ist willkommen, für alle anderen haben wir keinen Platz.“

Populistisch mit Angst aufgemotzt

Wie nach jedem sexualisierten Übergriff auf junge Frauen, wie beim Ausbreiten mafiöser und anderer krimineller Strukturen im Migrationsmilieu reagieren die Parteien mit Empörung, Schuldzuweisungen und politischem Aktionismus. Zum Beispiel mit dem Vorwurf: Die damalige Kanzlerin Merkel habe 2015 die Grenzen in einem falschen humanen Impuls geöffnet und damit die unkontrollierte Zuwanderung zum politischen Normalfall gemacht. Zum Beispiel mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den deutschen Außengrenzen nach dem Messerangriff von Solingen am 24. August mit drei Toten und vielen Verletzten. Die Wirkung dieser Kontrollen ist nicht messbar, sehr wohl aber, dass es die Nachbarn verärgert.

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Wenige Landtagswahlkampf-Wochen später ist Migration, populistisch mit Angst aufgemotzt, immer noch das Alleinstellungsmerkmal von AfD und BSW. Eine konstruktiv aufgestellte, Einwanderung bejahende Politik der anderen Parteien gibt es nicht.

Migration ist nun aber ein Zentralthema jeder Zukunftspolitik in allen westlichen Demokratien. Die Flüchtlinge aus dem Süden der Welt und aus den Diktaturen des Ostens sind nicht mit Zäunen, befestigten Grenzen, Abschottung auszubremsen. Hunger, ökologische Katastrophen, Korruption, Unterdrückung, Willkür und Ausbeutung, religiöser Fanatismus und Frauenfeindlichkeit sind in vielen Teilen der Welt Alltag und werden es bleiben. Eine Flucht aus dieser Welt des Unheils ist legitim.

Der demokratische Westen braucht Einwanderung

Dazu kommt, dass die demographische Entwicklung in allen westlichen Demokratien, die Emanzipation der Frauen, der ungebremste Rückgang der Geburtenzahlen und die hohe Alterung die workforce existenzgefährdend schrumpfen lässt. In der Folge werden die Sozialsysteme unbezahlbar. Schon bald wird für jede weitere Modernisierung von Gesellschaft und Wirtschaft das Humankapital knapp. Für eine Zukunft braucht der demokratische Westen Einwanderung.

„Wer mit offenen Augen durch die Welt läuft, sollte sich eingestehen, dass wir ein Problem mit jungen Männern aus patriarchalisch aufgestellten Ländern haben. Sie sind geprägt von einem reaktionären Frauenbild, in Gesellschaften aufgewachsen, in denen Sexualität tabuisiert und unterdrückt wird. Sie sind eine laute Minderheit, die uns liberalen Migranten schadet.“ – Ninve Ermagan in der FAZ.

Die aktive Organisation von geregelter und die Zurückweisung irregulärer Einwanderung müssen zu einer strategischen Kernaufgabe jeder westlichen Politik werden. Dazu bräuchte es in der Bundesrepublik, zum Beispiel, eine „Migrationspartei“ und ein Migrationsministerium, die die Einwanderung zu ihrer politischen, ihrer exekutiven und unser aller Sache machen. Das ist nicht in Sicht. Stattdessen versuchen sich CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne als die besseren Migrationsangst-Parteien zu profilieren.

Handlungsfelder für konstruktive, langfristig angelegte Migrationspolitik

Zielführend wäre es, mit einer, an klare Bedingungen geknüpften Einwanderungs- und einer konstruktiven Integrationspolitik Vertrauen in die Handlungsfähigkeit liberaldemokratischer Politik herzustellen. Dazu gehört auch die Einschränkung der irregulären Einwanderung. In Italien, nur mal als Beispiel, fordern die Sozialdemokraten für alle Migrationskinder und Migranten in Ausbildung bei erfolgreichem Schul- oder Ausbildungsabschluss eine automatische Einbürgerung. In Deutschland dagegen ist es derzeit unmöglich, tausende ukrainische Ärzte, Krankenschwestern oder Ingenieure an unseren Arbeitsmarkt anzupassen oder Examen aller Art von Migranten unbürokratisch zu überprüfen. Asylbewerber dürfen nicht arbeiten, um für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Pflichtige Mitarbeit an Sprachkursen für die Gewährung von Sozialleitungen gibt es nicht. Offen frauenfeindliches Verhalten hat keine Auswirkungen auf den Aufenthaltsstatus. Es ist irritierend, dass demokratiefeindliche, islamistische Organisationen auf bundesrepubklikanischen Straßen für Terror und Vernichtung demonstrieren können, ohne dass diese Auftritte Auswirkungen auf ihren Aufenthaltsstatus haben. Und es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, warum Zuwanderung und Asyl nicht strikt voneinander getrennt werden können, ohne letzteres zu beschädigen.

Cem Özdemir hat mit seinem Aufgabentableau „Sprache – Arbeit – Grundgesetz“ Handlungsfelder für eine konstruktive, langfristig angelegte Migrationspolitik abgesteckt. Auch wenn jetzt die politischen Linienwächter seiner Partei auf ihm herum hacken, könnten die Grünen auf diesem Weg zur ersten Migrationspartei der Republik werden – und damit den migrationsfeindlichen Populismen von AfD und BSW die Wirkung nehmen. 🐾

■ UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für unser Magazin taz FUTURZWEI.