Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften: Senatorin macht zähneknirschend mit
Zusammenlebende Geflüchtete werden bei Sozialleistungen wie Ehepaare behandelt. Bremen hält das für verfassungswidrig, macht aber keine Ausnahmen.
Das Bundesministerium für Soziales hatte 2019 das Gesetz mit der Begründung geändert, dass die Geflüchteten wie Ehepaare zusammen wirtschaften und somit Geld einsparen könnten. Die Betroffenen, die sich ein Zimmer teilen müssen, kennen einander häufig nicht und sprechen teilweise nicht einmal dieselbe Sprache.
„Die derzeitige Regelung ist nach meiner Auffassung verfassungswidrig“, sagte Stahmann dazu. „Die Lebensverhältnisse von Paaren sind nicht vergleichbar mit denen von Menschen, die das Schicksal zufällig in einer Gemeinschaftsunterkunft zusammengeführt hat.“
Nach der Klage eines Geflüchteten aus Sri Lanka hat das Sozialgericht Düsseldorf am 13. April 2021 beim Bundesverfassungsgericht einen Normenkontrollantrag gestellt. Das Gericht überprüft nun, ob die aktuelle Regelung verfassungswidrig ist. Im Rahmen einer Normenkontrollklage kann das Bundesverfassungsgericht auch die Bundesländer anhören.
Spielräume nicht genutzt
Der Bremer Flüchtlingsrat stört sich daran, dass die Bremer Senatorin die aktuelle Rechtslage zwar als verfassungswidrig bezeichnet, die Spielräume, die das Gesetz für Ausnahmeregelungen vorsieht, aber nicht genutzt würden. Aktuell bekommen 176 alleinstehende Geflüchtete in Bremen nur noch 330 statt 367 Euro pro Monat.
„Es sind Ausnahmen möglich, das sagt das Sozialressort sogar selbst. Praktisch macht es aber keine“, sagt Holger Dieckmann vom Bremer Flüchtlingsrat. „Es reicht nicht, gegen das Gesetz zu klagen. Man muss auch jetzt schon dafür sorgen, dass es verfassungskonform ausgelegt wird.“
Seit Februar 2021 gibt es sogar eine Verwaltungsanweisung der Senatorin, die Ausnahmen von der gesetzlichen Regelung wegen der Pandemie möglich macht. Betroffene müssten allerdings Anträge stellen und individuell begründen, warum kein gemeinsames Wirtschaften möglich ist, so Dieckmann. „In Übergangswohnheimen gilt aufgrund der Coronaverordnung das Abstandsgebot von 1,5 Metern. Das heißt doch, dass dort niemand zusammen wirtschaften kann.“
Mit dem Projekt „PAY: Zurück zum Existenzminimum – It’s your right!“ hat der Flüchtlingsrat rund 100 Betroffene in Widerspruchsverfahren gegen die niedrigen Zahlungen unterstützt. „Alle wurden mit dem immer gleichen Textbaustein abgelehnt“, sagt Dieckmann.
Pauschale Ausnahme nur in der Quarantäne
Der Sprecher der Senatorin, Bernd Schneider, erklärt die Ablehnungen auf taz-Anfrage damit, dass pauschale Ausnahmen vom Gesetzgeber ausdrücklich nicht gewünscht seien. Er bezieht sich auf die Bundesregierung, laut deren Anwendungshinweisen Ausnahmen von der aktuellen Gesetzgebung nur zulässig sind, wenn im Einzelfall die Möglichkeit zum gemeinsamen Wirtschaften erheblich eingeschränkt ist.
„In den Widersprüchen wird aber nicht mit den Umständen der Einzelfälle argumentiert, daher kann ihnen auch nicht stattgegeben werden“, sagt Schneider gegenüber der taz. „Wir können uns nicht aus einer eigenen Rechtsauffassung heraus über Bundesrecht hinwegsetzen“, so die Senatorin.
Eine pauschale Ausnahme gibt es derzeit nur für Personen, die sich in Quarantäne befinden, da dann ohne Nachweis ersichtlich ist, dass kein gemeinsames Wirtschaften mehr möglich ist. Wer also in einer Gemeinschaftsunterkunft isoliert werden muss, bekommt derzeit automatisch mehr Geld vom Land Bremen.
Für Dieckmann ist das zu wenig: „Entscheidend ist doch, welche Auswirkungen das für die Betroffenen hat. Viele erhalten nun verfassungswidrig Leistungen unterhalb des Existenzminimums, obwohl das vermieden werden kann und muss.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin