Gefangen in der Freiheit: Mit wem man nicht spricht

Seit der Ex-Sicherungsverwahrte Jens B. in Hamburg-Moorburg lebt, ist es still geworden. Polizisten folgen ihm stets, die alten Protestschilder baumeln im Wind. Ist er noch gefährlich?

Zeichen des stillen Protests: Die geräumte Haltestelle auf der anderen Straßenseite. Bild: Mauricio Bustamante

HAMBURG taz | Der Mann, der jenseits der Autobahnbrücke wohnt, spricht nicht. Andere tun es für ihn.

So wie der lange Kerl, der die Tür des Mannes öffnet, wenn man dort klingelt. Er sagt: „Mein Kollege nimmt Ihren Ausweis jetzt mal kurz mit.“

Oder die Frau, die hier im Hamburger Stadtteil Moorburg Kinder betreut – auf ihrer Seite der Brücke. Sie sagt: „Herr B. möchte nicht wie ein Sozialfall behandelt werden“. Weil „Jens B.“ in der Zeitung steht. Ein Polizeibeamter habe ihr erklärt, was der neue Nachbar wünscht. Keinen Kontakt nämlich. Seit einem Dreivierteljahr hält sie sich daran.

1998: Die Sicherungsverwahrung (SV), die auf zehn Jahre begrenzt war, wird entfristet.

2004: Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert die "nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung", die eine SV auch dann erlaubt, wenn sie im ursprünglichen Urteil nicht vorgesehen war.

2009: Diese Regelung erklärt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für menschenrechtswidrig. In der Folge müssen mehrere Kläger aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden.

Juli 2010: Der 53-jährige Hans-Peter W. wird nach 30 Jahren Haft aus der Justizvollzugsanstalt Freiburg entlassen. Nachdem er sich zunächst in Bad Pyrmont aufhält, schlagen ihm die Behörden aufgrund von Medienberichten vor, ins anonymere Hamburg zu ziehen. Hier veranstalten Bild-Zeitung und Mopo eine mediale Hetzjagd auf W. Dieser wird rund um die Uhr von bis zu vier Polizeibeamten bewacht.

Dezember 2010: Hans-Peter W. zieht auf das Gelände einer Hamburger Klinik. Der damals CDU-geführte Senat will rückfallgefährdete Sicherungsverwahrte in einem ausgebauten Trakt des Untersuchungsgefängnisses am Holstenglacis unterbringen.

22. Dezember 2010: Der Deutsche Bundestag beschließt das Therapieunterbringungsgesetz (ThUG). Das soll die Unterbringung von verurteilten Straftätern regeln, die nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden dürfen, weil ihre Sicherungsverwahrung rückwirkend verlängert wurde.

Januar 2011: In der Hamburger Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel wird eine neue Station mit 31 Plätzen für Sicherungsverwahrte eröffnet. Zunächst wird sie von 14 Sicherungsverwahrten bezogen.

Mai 2011: Das Bundesverfassungsgericht erklärt die deutschen Regelungen der Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig.

Dezember 2011: Hamburg will drei entlassene Sicherungsverwahrte in einem ehemaligen Altenheim in Hamburg-Jenfeld unterbringen, das von der Polizei bewacht wird. Auch hier kommt es nach Medienberichten zu Protesten, die teilweise von Neonazis instrumentalisiert werden.

Januar 2012: Trotz anhaltender Proteste ziehen Hans-Peter W. und Karsten D. nach Jenfeld. Im Februar folgt der dritte Entlassene, Jens B.

Juni 2012: Entgegen der Meinung von Fachleuten verfügt Hamburgs Innensenator Michael Neumann (SPD), dass W. weiterhin von der Polizei bewacht wird.

August 2012: Da im November die Pacht für das Haus in Jenfeld ausläuft, gibt der Senat bekannt, die Männer im Hafenerweiterungsgebiet in Hamburg-Moorburg unterbringen zu wollen. Auch dort kommt es zu Protesten.

November 2012: Karsten D. und Hans-Peter W. ziehen in Privatwohnungen, ihre Bewachung durch Polizeibeamte wird eingestellt. Der Dritte der Jenfelder Sicherungsverwahrten, Jens B., zieht nach Moorburg.

Mai 2013: Hamburg beschließt eine Neuregelung der Sicherungsverwahrung. 20 Sicherungsverwahrte wollen dagegen auf ihre Freilassung klagen

Jens B. ist 53 Jahre alt und er war 25 Jahre im Gefängnis. Verurteilt, weil er 1985 eine Frau in Göttingen vergewaltigt und beinahe getötet hat. Auf die Haft folgte seine Sicherungsverwahrung. Während er saß, entschieden draußen die Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte über das Schicksal von Langzeitgefangenen wie ihn. Das Hamburger Landgericht musste seinen Fall erneut prüfen und ließ ihn gehen – mit der Auflage, in einer städtischen Einrichtung zu leben.

Als Jens B. vom Gefängnis in ein ehemaliges Altenheim in Hamburg-Jenfeld zog, war es Februar 2012. Damals wohnten dort bereits zwei Männer, die wie er aus der Sicherungsverwahrung kamen. Polizisten patrouillierten vor der Tür, an manchen Tagen fuhren Autokorsos durch die Straßen und oft versammelten sich Menschen vor dem Fenster, um zu protestieren. „Kinderficker“, sagten sie: „Warum gerade hier?“

Neun Monate später brachten die Polizisten Jens B. in eine neue Unterkunft, als einzigen der drei freien Männer. Seine früheren Mitbewohner leben heute anonym in eigenen Wohnungen. In der Stadt, die Polizei hält es nicht mehr für nötig, sie zu bewachen. Jens B. lebt in Moorburg, knapp 800 Einwohner, im Haus mit der Nummer 329. Das weiß hier jeder.

Wer Jens B. vergisst, den erinnern die Schilder an ihn. An die Gartenzäune, an Laternenpfähle und an die Bäume am Straßenrand haben die Nachbarn hier Plastiktafeln geknotet. Auf die weißen Quadrate sind Zeichnungen eines Turms gedruckt: Ein Bild der alten Burg, die dem Ort seinen Namen gab. Mehr nicht. Weil keiner mit Jens B. spricht und weil das Sprechen über ihn so mühselig geworden ist, gibt es in Moorburg jetzt einen stillen Protest.

„Eine Symbolik, die nicht abwertet“, sagt Manfred Brandt. Er ist 68 Jahre alt und er war 30 Jahre in der FDP. Brandt hat das Motiv entworfen. An seiner Haustür hängt es auch, bloß viel größer, auf ein Tuch gedruckt. Auf Papier klebt die Turmzeichnung in jedem seiner Fenster, und am Fahnenmast im Hof hat er sie ebenfalls gehisst, in Pastellfarben. „Wir müssen durchhalten“, sagt Brandt. Sein Bart ist weiß, die Nase knollig, er ist hier aufgewachsen.

Auf dem Gehöft seiner Eltern vermietet Brandt Ateliers an Künstler, die ihm Selbstgetöpfertes auf die Wiese stellen oder Skulpturen aus Metall. Er selbst hat hier Rosen gepflanzt. Sein Antrieb für den Protest gegen Jens B. sei weder Feindseligkeit noch Egoismus, sondern die Politik. Ihm gehe es auch um den Menschen B.: „Der hat hier ja auch kein Gefühl von Sicherheit“, sagt Brandt, „so auf dem Präsentierteller.“ Er habe viel über Traumatisierung gelesen im letzten Jahr, über sexuelle Gewalt.

In Moorburg sei die Kritik im Gegensatz zu Jenfeld „sehr differenziert“, lobt der Leiter des zuständigen Polizeikommissariats, Dirk Noetzel. Dies hier, sagt er, sei „intelligenter Protest“.

„Wir wollen es ihm hier so ungemütlich wie möglich machen, damit er wieder geht“, sagt die Frau, die auf Brandts Hof Keramik verkauft. „Wer will schon neben einem Schwerverbrecher wohnen?“, fragt der Mann im Nachbarhaus.

Jens B. sieht die Schilder von Manfred Brandt, wenn er mit dem Fahrrad fährt. Dann radelt er den Deich entlang, oben, wo sich die Rasenfläche den Hafenkränen entgegenwölbt. Hier sehen ihn auch die Leute, wenn sie mit ihren Hunden spazieren gehen: einen Mann mit Schutzhelm und Sonnenbrille, immer begleitet von mindestens zwei Herren in Zivil.

„Er fährt viel Fahrrad“, sagt seine Anwältin Ines Woynar. „Er mag das, da wohnen.“ In der Zeitung steht: „Sex-Verbrecher radelt der Polizei davon“.

Einmal, erzählen sich die Moorburger, habe der Hubschrauber schon gekreist. Da sei er abgehauen. Zweimal schon, sagt Brandt. Wenn jetzt der Verkehrshubschrauber über der Autobahn steht, sagen die Leute: „Na, ist er wieder unterwegs?“

Die Beobachtung des ehemals Sicherungsverwahrten Jens B. durch die Polizeibeamte muss an 24 Stunden am Tag gewährleistet sein.

Die Opposition in der Hamburgischen Bürgerschaft hat ausgerechnet, dass die Überwachung von B. in Moorburg die Staatskasse bisher mindestens 600.000 Euro gekostet hat. Zusammen mit dem Ausbau des Bauernhauses, in dessen Erdgeschoss Sozialarbeiter und Polizeibeamte eigene Aufenthaltsräume bekommen haben, sind es 870.000 Euro.

Zusätzliches Geld zahlte der SPD-Senat an den Kindergarten und den Reiterhof – Entschädigungen, weil Eltern ihre Kinder abmeldeten, aus Angst vor Jens B. Dazu eine Familie, die fort zog und deshalb Geld bekam, das macht laut CDU knapp 900.000 Euro. Minimum.

Viel Geld, um die Bevölkerung vor einem einzelnen Mann zu schützen. Wie gefährlich ist Jens B.?

Als das Hamburger Oberlandesgericht B. im Dezember 2011 in die Freiheit entließ, stützte es seine Entscheidung auf zwei Gutachten. Sachverständige hätten darin festgestellt, „dass bei dem Betroffenen nicht mehr die Gefahr bestehe, dass er erhebliche Straftaten begehe“, zitierte die Welt die Richter.

Warum also wird Jens B. trotzdem von der Polizei bewacht? Wer hat gesagt, dass er so bedrohlich ist, dass es dieses hohen Maßes an Sicherheit bedarf?

Die Entscheidung, ob von B. noch eine Gefahr ausgeht, nennt der Sprecher der Hamburger Justizsenatorin Jana Schiedek (SPD) den Schwarzen Peter. Und der liege glücklicherweise nicht bei Schiedek. „Das ist die alleinige Entscheidung der Polizei“, sagt er: „Ich bin froh, dass ich sie nicht treffen muss.“

Die Grundlage, auf der Jens B. zurzeit bewacht wird, ist ein Polizeigesetz. Eigentlich regelt es, wie verdächtige Personen beschattet werden dürfen: die Observation. In Moorburg, sagt ein Polizeisprecher, observierten die Beamten eben „offen“ – zur Gefahrenabwehr.

Wie lange wird das nötig sein? „Wenn die Führungsaufsicht feststellt, dass er sich so weit sozialisiert hat, dass die Gefährdung nicht mehr gegeben ist“, sagt die Polizei.

Im Oktober, noch bevor jemand im Bauernhaus wohnte, versammelten sich in der Abenddämmerung mehr als 100 Frauen an der Bushaltestelle „Moorburger Kreuzung“. Denn dort, wo das Haus steht, hielten auch die Busse. Hier stiegen die Frauen ein, hier warteten die Kinder. Wenn sie unter dem Windschutz der Haltestelle hervorschauten, hätten sie Jens B. geradewegs in die Augen sehen können – und er ihnen.

Der Senat schickte einen Staatsrat. Heute blickt B. auf ein leeres Häuschen, die Bushaltestelle ist jetzt auf der anderen Seite der Kreuzung.

Der Fußweg von der St.-Maria-Magdalena-Kirche bis zur Tür des Bauernhauses dauert eine halbe Stunde. Gegangen ist ihn Pastorin Anja Blös noch nie. „Von offizieller Seite“, sagt sie, habe man ihr zu verstehen gegeben: „Für ihn ist es wichtig, in Ruhe gelassen zu werden.“ Daran halte sie sich, wie alle hier im Ort. Die Polizei mache sich Sorgen, dass Jens B. Bindungen aufbauen könnte, sagt auch Schildermaler Manfred Brandt.

Die Polizei widerspricht: „Für uns hätte das keinen Sinn“, sagt eine Sprecherin: „Unser Interesse ist, dass der Mann so schnell wie möglich wieder in die Gesellschaft integriert wird.“

Hat doch die Gemeinde den Schwarzen Peter? „Ich bin verärgert, wenn ich höre, dass die Sprecherin das so sagt“, antwortet Pastorin Blös. Würde Jens B. sie als Pastorin aufsuchen – sie würde ihn nie abweisen.

Anruf im Senat. Eine Frage an den obersten Dienstherrn der Polizei, Innensenator Michael Neumann (SPD): Wie sollen, seiner Meinung nach, Integration und Jobsuche unter ständiger polizeilicher Begleitung gelingen?

Die Antwort: „Zu Fragen der gesellschaftlichen Integration des Betroffenen ist die Pressestelle der Justizbehörde die richtige Ansprechpartnerin.“

Ist also doch Justizsenatorin Schiedek verantwortlich für das Schicksal von Herrn B.? Wie kommt ein Mann zurück in die Gesellschaft, dem seit anderthalb Jahren Polizisten folgen?

Wie es mit den Mitmenschen läuft, solle man doch besser Sozialarbeiter fragen als eine Senatorin, sagt Schiedeks Sprecher.

Im Bauernhaus betreuen die Eingliederungshelfer des sozialen Dienstes „Fördern und Wohnen“ Jens B. Sie schreiben Bewerbungen mit ihm, dem gelernten Gärtner. „Mein Mandant nimmt jeden Job“, sagt seine Anwältin Woynar. Doch die Polizisten wichen ja nicht von seiner Seite – auch nicht bei potenziellen Arbeitgebern. Selbst bei landeseigenen Betrieben klappe es deswegen nicht, eine Arbeit für ihn zu finden.

Die Polizei bestreitet das: „Bei Bewerbungsgesprächen sind wir nicht dabei.“ „Fördern und Wohnen“ sagt: Die Polizisten einzusetzen, sei eine Entscheidung der Innenbehörde, „die möchten wir nicht bewerten“. Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Anwältin Woynar streitet vor Gericht dafür, dass Jens B. nicht mehr überwacht wird – oder zumindest so, wie man sich eine Observation vorstelle: „Dass sie einen Schlapphut aufhaben, um die Ecke stehen und nicht zu sehen sind“, sagt sie. Damit seine Resozialisierung beginnen könne, so wie bei anderen Straftätern auch. In Anonymität.

Bloß ist Jens B. kein normaler Straftäter. Er ist ein Politikum. Eine Antwort darauf, wie gefährlich er ist, scheitert in Moorburg bereits an der Frage. Hier sollte sie lauten: Welcher Kopf rollt, wenn trotzdem etwas passiert? Dann wird sich zeigen, wer den Schwarzen Peter hat.

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