: Gefaltete Hände
Sahra Wagenknecht zu Gast bei einer Erwerbsloseninitiative in Neukölln. Die Diskutanten streiten inbrünstig: über Marx und das „Weltjudentum“
von STEFAN KAISER
„Blue Paradise“ steht über dem Eingang der schlichten Neuköllner Eckkneipe. Drinnen, hinter den bunten Glasfenstern, hängt Zigarettenqulam in der Luft. In einem Hinterzimmer drängen sich etwa 50 Leute. Die meisten von ihnen sind älter als 40 Jahre, viele sind arbeitslos. An einem Tisch in der Ecke des Zimmers sitzt eine junge Frau im bordeauxroten Pullover, das Gesicht sonnengebräunt, die Haare streng nach hinten gesteckt. Es ist Sahra Wagenknecht, Vertreterin der Kommunistischen Plattform in der PDS.
Sie ist hierher gekommen, um über „Armut und Reichtum in Berlin“ zu diskutieren. Georg Weise von der Erwerbslosen-Initiative Neukölln (Erwin) stellt sie als Politikerin vor, „die sich am weitgehendsten für die Beseitigung sozialer Ungleichheiten einsetzt“. Doch bevor sie reden darf, muss sich Wagenknecht noch ein wenig in Geduld üben. Zunächst erzählt Detlef Ebel, ehemaliger Funktionär beim Berliner DGB, von der „seelischen Armut“ arbeitsloser Menschen, vom „schlimmen Gefühl, nicht gebraucht zu werden“. Die Lösung für die Schaffung von vier Millionen Arbeitsplätzen habe keiner, sagt Ebel. „Doch, die hat Karl Marx“, ruft ein Mann mit schwarzem Schnauzbart.
Als zweiter Redner ist Detlef Fendt an der Reihe. Der Vertrauensmann bei Daimler-Chrysler in Marienfelde beklagt die seit der Wende drastisch gefallenen Löhne und betont die Bedeutung der Multinationalität.
Sahra Wagenknecht faltet die Hände und hört aufmerksam zu. Auch als Dieter Hoch von der Erwerbsloseninitiative „Hängematten“ von der zunehmenden soziale Schieflage berichtet. „Alleine in Berlin sind in den letzten zehn Jahren rund 300.000 Arbeitsplätze verloren gegangen.“ Da sieht auch Wagenknecht Handlungsbedarf. Sie steht auf und redet – schnell, aber klar und pointiert. „Die Arbeit geht nicht aus, sie wird nur massiv umverteilt“, erklärt Wagenknecht. Überstunden müssten abgebaut und die Wochenarbeitszeit verkürzt werden. Das Bündnis für Arbeit könne dies nicht leisten. „Das ist doch in Wahrheit ein Bündnis für Profite.“
Das hat gesessen. Ihre Zuhörer applaudieren heftig. Und Wagenknecht setzt nach. Mehr öffentlich geförderte Arbeitsplätze sollen geschaffen werden. „Geld ist genug da“, sagt die bekennende Kommunistin. „Auch wenn ich nicht die Hoffnung habe, dass Schröder in Kürze die Deutsche Bank sozialisiert.“
Als das Publikum selbst aufgerufen ist, Probleme anzusprechen und zu diskutieren, wird esschwierig. Zu heterogen sind die Interessen und Meinungen. Während einige kenntnisreich mit Paragrafen und Zahlen jonglieren, fordern andere, „den Daimler-Chrysler-Konzern ganz zuzusperren“. Wieder andere schimpfen auf das „asoziale kapitalistische System“ und versuchen sich in Grundkursen marxistischer Mehrwerttheorie. Als ein türkischstämmiger Maschinenbauingenieur über seine Probleme bei der Arbeitssuche berichten will, fordert ein Mann mit schütterem Haar und dicker Hornbrille „deutsche Arbeit für deutsche Leute“. Seine Tischnachbarn wollen ihn daraufhin aus dem Saal werfen lassen, doch das verhindert Veranstalter Georg Weise: „Er steht ja mit der Meinung nicht alleine da, lasst uns lieber über die Sache reden.“
Protest regt sich auch, als ein älterer Mann mit Halbglatze sein Sechs-Punkte-Programm vorstellt, in dem er unter anderem „Weltjudentum“ und „Holocaust-Industrie“ geißelt und eine stärkere finanzielle Belastung für Operngänger fordert. „Deine Zeit ist vorbei“, ruft ihm einer zu.
Sahra Wagenknecht bleibt bei alldem merklich gelassen. Sie notiert sich die Fragen und antwortet. „Menschen mit deutschen und anderen Pässen dürfen sich nicht gegeneinander ausspielen lassen“, sagt sie beruhigend. Über den Kapitalismus indes müsse man sie nicht aufkären. Langfristig sei auch sie für dessen Überwindung. „Es ist aber unrealistisch, das hier und heute zu tun.“
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