Gefängnis für die Biolehrerin: Eine erfundene Vergewaltigung
Das Landgericht Darmstadt verurteilt Heidi K. zu fünfeinhalb Jahren Haft wegen falscher Aussagen gegen ihren Kollegen. Ihr Opfer ist längst tot.
DARMSTADT taz | Die Zerstörung einer Existenz ist nicht wiedergutzumachen. Dieses Fazit zog heute das Darmstädter Landgericht in seinem Urteil gegen Heidi K. Es verurteilte die suspendierte Biologielehrerin wegen Freiheitsberaubung zu fünfeinhalb Jahren Haft. Die heute 48-Jährige hatte ihren einstigen Sportkollegen Horst Arnold vor zwölf Jahren bezichtigt, sie vergewaltigt zu haben. „Erschreckend“, so hieß es in der Urteilsbegründung, sei das Fehlen eines wirkliche Motivs der Täterin.
„Die Justiz würde sich gern bei Herrn Arnold entschuldigen“, sagte Richterin Barbara Bunk, Vorsitzende am gleichen Gericht, das den Lehrer 2002 wegen Vergewaltigung fünf Jahre ins Gefängnis schickte. Im Laborraum eines Gymnasiums in Reichelsheim im Odenwald sollte er Heidi K. brutal zu Analsex gezwungen haben. Weil die Lehrerin alle Vorwürfe erfunden habe, erklärte ein Kasseler Gericht 2011 in einer Wiederaufnahme Arnold für unschuldig. Er starb ein Jahr später 53jährig an Herzversagen.
Wegen schwerer Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft saß die Lehrerin nun seit April auf der Anklagebank, getrant unter einer roten Langhaarperücke. Sie blieb bei ihrer Vergewaltigungsversion. „Objektive Beweise“ für oder gegen ein Verbrechen im Laborraum gebe es nicht, sagte Bunk. „Mosaiksteine“ bei der Urteilsfindung seien aber die zahllosen erfunden Geschichten gewesen, die Heidi K. über Jahrzehnte hinweg im Bekanntenkreis erzählte. 60 Zeugen hatten im Verfahren sämtliche ihrer Märchen zum Einsturz gebracht.
Beispielhaft rekapitulierte Bunk, dass Heidi K. im Prozess vorgegeben hatte, einem Freund nie begegnet zu sein, dem sie 1990 geschildert hatte, wie sie von ihrem damaligen Ehemann vergewaltigt worden sei. Erst als sich abzeichnete, dass dieser Freund in Darmstadt aussagen würde, erinnerte sich die Lehrerin an ihn: als einen angeblichen früheren Stalker. Er habe das von Heidi K. mit „engelsgleicher Stimme“ erzählte Märchen damals geglaubt, berichtete der Zeuge. „Es ist unmöglich“, sagte Bunk am Freitag, „einen vermeintlichen Stalker zu vergessen.“
In ihren Schilderungen von Arnolds angeblichem Übergriff hatte sich die Lehrerin 2001 gegenüber Kolleginnen tagelang gesteigert, aus einer verbalen Attacke war ein Begrabschen und am Ende eine Vergewaltigung geworden. „Erwachsene haben gelernt zu lügen“, sagte die Vorsitzende. Aber in ihrem Hang zum Dramatisieren habe Heidi K. nicht mehr gewusst, was sie zuvor erzählte. „Ichzentriertheit im Erfinden tragischer Geschichten“, nannte es ein Gutachter im Prozess.
Der von der Verteidigung angekündigten Revision wird von Prozessbeobachtern allenfalls Einfluss auf das Strafmaß beigemessen. Auch ihren Beamtenstatus verliert Heidi K., die einen 18-jährigen Sohn hat. Das Urteil nahm sie ebenso regungslos zur Kenntnis wie sie den Prozess verfolgt hatte. Übrig bleiben zwei zerstörte Leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt