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Gefährdete GesundheitsversorgungDes Brexits bittere Pille

Kommt der ungeregelte Austritt, drohen den Briten Versorgungsengpässe. Wie sich Pharma-Unternehmer rüsten und was ein Apotheker fürchtet.

„Alles wegen des Brexit“: Martin Day vor dem Hochlager der Pharmagruppe Eisai Foto: Daniel Zylbersztajn

London taz | Leider ist dieses Medikament aus“, bedauert der Pharmazeut einer kleinen Londoner Apotheke und bietet der älteren Frau mit ihrem Rezept an, dennoch einmal nachzusehen, was sich machen lässt. „Ein derartiger Arzneimangel kommt derzeit immer häufiger vor“, erklärt der Apotheker der Kundin, die mit ihrem Sohn gekommen ist. „Vielleicht ist es wegen des bevorstehenden Brexits“, sagt er.

Wenn bis vor dem 30. März zwischen Großbritannien und der Europäischen Union kein Abkommen geschlossen wird, das die Übergangszeit nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs reguliert, könnte es beim In- und Export aller möglichen Güter zu Schwierigkeiten kommen, so die Befürchtung vieler Briten. Das gilt nicht nur für Lebensmittel und Industriegüter, sondern eben auch für Arzneimittel.

Jedes Jahr werden 1 Mil­liar­de Arzneimittelpackungen zwischen Großbritannien und der übrigen EU ausgetauscht. Drei Viertel dieser Medikamente und die Hälfte aller anderen medizinischen Produkte werden derzeit aus anderen EU-Staaten importiert. Das wird sich auch nach dem Brexit nicht so schnell ändern. Das britische Ministerium für den Austritt aus der EU gibt sich dennoch zuversichtlich, dass im Fall eines ungeregelten Brexits trotzdem alles glatt über die Bühne gehen wird, zumindest was Medikamente betrifft.

Das britische Gesundheitsministerium forderte bereits im August 2018 die gesamte Pharmaindustrie auf, Arzneimittel für einen Mindestbedarf von sechs Wochen aufzustocken. Sollte es nach einem Austritt zu Problemen kommen, gäbe es so einen kurzfristigen Puffer.

Die britische Regierung hat zusätzlich selbst damit begonnen, Medikamente zu lagern. 11 Millionen Pfund stehen dafür zur Verfügung. Zyniker sprechen wegen solcher Kosten vom Ende aller groß verkündeten finanziellen Vorteile des Austritts. Doch als letztendlich für die Gesundheit ihrer Bürger verantwortliche Instanz kann die Regierung in Fragen der medizinischen Versorgung solchen Sicherheitsmaßnahmen nicht aus dem Weg gehen.

Eine Lagerhalle voller Medikamente

Die japanische Pharmagruppe Eisai stellt Medikamente zur Bekämpfung von Epilepsie her. Ihr europäischer Hauptsitz liegt in Hatfield am nördlichen Rande Londons: ein moderner, mit Bäumen bestandener Bürokomplex. In einer hoch gebauten Lagerhalle erklärt der 46-jährige Verantwortliche Martin Day, dass das Gebäude noch nie so voll gewesen sei wie derzeit. „Ja, das ist wegen des Brexits“, bestätigt der Mann in gelb-grüner Sicherheitsweste und zeigt auf die Paletten, die sich meterhoch nach oben ziehen „Wir verpacken die einzelnen Ladungen jetzt viel enger und kompakter, um Platz zu sparen“, sagt er. Sein Team sei deswegen durchgehend beschäftigt – eine Bemerkung, die der stets hin und her fahrende Gabelstapler bestätigt. In der Halle herrscht Normaltemperatur, in anderen Gebäuden werden die Medikamente bei minus 70 Grad Celsius frisch gehalten.

Wir hoffen sehr, dass es eine Einigung bezüglich einer geregelten Übergangsphase gibt

David Jefferys, Vizechef der Pharmagruppe Eisai

David Jefferys, der Vizepräsident von Eisai, sagt, dass die Firma sich schon seit 18 Monaten im Brexitmodus befindet. Statt der vorher üblichen sechs Wochen baut Eisai einen sechsmonatigen Vorrat auf. „Arznei für Epileptik ist so spezifisch, dass wir für die Menschen, die darauf angewiesen sind, eine große Verantwortung tragen“, sagt er. Auch Rohstoffe zur Weiterproduktion würden gelagert, damit bei Importverzögerungen die Herstellung nicht gestört wird. Und das sei noch nicht mal alles, erwähnt Jefferys.

Damit weiterhin Lizenzen in der EU angemeldet werden können, verlagerte Eisai ein Team nach Frankfurt und die medizinischen Tests nach Antwerpen. Ein Zurück schließt Jefferys auch im Fall eines geregelten Austritts Großbritanniens aus der EU aus. Die zusätzliche Lagerung und die neuen Büros in Belgien und Deutschland kosteten seine Firma inzwischen über 10 Millionen Euro, betont Jefferys.

Ab März müsse das Unternehmen dann wahrscheinlich permanent doppelt für Lizenzen zahlen, einmal in der EU und einmal in Großbritannien. Denkt Eisai gar an eine Verlegung seiner Zentrale auf den Kontinent? „Nein“, sagt Jefferys, „wir haben über die Jahre viel in unsere Präsenz hier und in Arbeitskräfte investiert.“ Und er ergänzt: „Wir hoffen sehr, dass es eine Einigung bezüglich einer geregelte Übergangsphase gibt, damit die Umstände für den britischen Markt so gut wie möglich bleiben.“

London tüftelt neue Transportrouten aus

Im Zuge der Loslösung von der EU hat Großbritannien eine ganze Reihe Vorbereitungen für den Pharmasektor getroffen. Neue Verträge mit den USA, Australien und Kanada regeln, dass weiterhin die für medizinische Zwecke notwendigen radioaktiven Isotope in das Land kommen können. Apotheker sollen größere Freiheiten vom zentral gesteuerten nationalen Gesundheitsdienst (NHS) erhalten, um, bei Nichtverfügbarkeit gewisser Medikamente, rasch Alternativen finden zu können, die sie dann im Auftrag des Gesundheitsdienstes selbständig bestellen zu dürfen.

Damit Medikamente den befürchteten kilometerlangen Warteschlangen an den Kanalhäfen von Calais und Dover entgehen, hat man neue Transportrouten nach Großbritannien über alternative Häfen geplant. Arzneimitteltransporte sollen außerdem bevorzugt abgefertigt werden. Notfalls könnte es gar Sonderflüge mit dringend benötigten Medikamenten geben, um die Arzneimittelversorgung zu garantieren.

Diabetes-Patienten und Epileptiker in Sorge

Nicht wenig also, um Engpässen zu entgehen. Doch Bridget Turner, Direktorin von Diabetes UK, dem Verband britischer Diabetiker*Innen, beruhigt Derartiges dennoch nicht. Es gebe zu wenige Einzelheiten über all diese Pläne, sagt sie am Telefon. „Insulin muss ununterbrochen verfügbar sein, da Diabetiker*Innen der Stufe I schon innerhalb weniger Stunden ohne Insulin schwer erkranken können. Sie können auch nicht einfach die Art oder Marke des Insulins, ohne schwerwiegende Gesundheitsfolgen in Kauf zu nehmen, wechseln“, erklärt Turner. Deshalb seien Diabetiker*innen zunehmend über die Situation besorgt – und das, obwohl Premierministerin Theresa May selbst insulinpflichtige Diabetikerin ist.

Auch der britische Epilepsie-Verband warnt. Vereinzelt hätten Betroffene inzwischen aus Furcht vor einer unregelmäßigen Versorgung nach dem Brexit damit begonnen, eigene medizinische Vorräte aufzubauen. „Allein das könnte bereits zu einem Arzneimangel führen“, sagt die Geschäftsführerin Clare Pelham. Auf Facebook gibt es inzwischen Gruppen wie „48 % Prepper“ mit über 7.000 Mitgliedern zum Austausch über das, was man zu Hause lagern sollte, um auf einen „No Deal Brexit“ vorbereitet zu sein.

Fürchtet höhere Preise: Apotheker Mehmed Ahmed Foto: Daniel Zylbersztajn

Martin Sawer ist Geschäftsführer der Healthcare Distributon Association, der die Logistik­unternehmen im britischen Gesundheitssystem vertritt. Er glaubt, dass die Regierung durch die Planung alternativer Routen für den „No Deal“ vorgesorgt habe. Mögliche Probleme nach einem ungeregelten EU-Austritt könnten auch aus ganz anderen Gründen entstehen. „Medikamente werden manchmal absichtlich vom Markt ferngehalten, um so ihren Wert zu steigern“, sagt er. So etwas könne beispielsweise passieren, wenn das britische Pfund nach dem Austritt weiter sinken sollte.

Apotheker Mehmed Ahmed muss draufzahlen

Mehmed Ahmed, ein privater Apotheker im Nordosten von London, steht in seiner Wollweste vor übervollen Regalen in seinem Geschäft. Ihn würde es nicht überraschen, wenn der Pharmahandel mit der Verfügbarkeit von Arzneimitteln üble Spielchen spielen würde. Der 48-Jährige vermutet, dass er bei einigen Medikamenten im Falle eines „No Deal“ sogar draufzahlen muss. Das sei auch jetzt schon manchmal der Fall.

Arzneimittel-Agentur verlässt London: 900 Jobs weniger

Umzug nach Amsterdam Etwa zwei Monate vor dem geplanten Brexit hat die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA in London ihre Türen für immer geschlossen. Damit gehen Großbritannien nach einem Bericht der Zeitung The Guardian etwa 900 Arbeitsplätze verloren. Die EU-Behörde verlagert ihren Sitz nach Amsterdam. Die EMA ist die Aufsichtsbehörde für Qualität und Sicherheit von Arznei­mitteln. Der Umzug war wegen des bevorstehenden EU-Austritts nötig geworden.

Abschied von Europa Am Freitagabend wurden die 28 EU-Fahnen eingeholt und Abschiedsreden gehalten. „Das ist ein trauriger Tag für Großbritannien und ein großartiger Tag für die Niederlande“, sagte der Leiter der Wellcome-Stiftung, Jeremy Farrar, zu dem Umzug. Fast alle Mitarbeiter der EMA ziehen mit ihren Familien in die Niederlande um. (dpa, taz)

Verantwortlich für die Preisregulierung ist ein spezielles Komitee, das die Preise im Auftrag des Nationalen Gesundheitsdienstes abklärt. Schon derzeit bestehe ein Mangel bei rund 80 Produkten. Ahmed zeigt auf Naproxen, ein entzündungshemmendes Schmerzmittel, dass derzeit 45 Prozent teurer ist, als der Gesundheitsdienst es festgelegt hat. Nicht immer erhält der Apotheker die Mehrkosten zurückerstattet.

Ein Sprecher der Nationalen Apothekervereinigung (NPA) erklärte dazu, das Problem sei bekannt. „Der Mangel an bestimmten Medikamenten ist seit mehreren Monaten ein zunehmendes Problem, und der Brexit scheint die Situation noch verschärft zu haben“, heißt es in einer Stellungnahme des Apothekerverbands. Deshalb fordert er eine Erlaubnis, dass Apotheken untereinander Medikamente austauschen dürfen.

„Eigentlich wurde behauptet, dass die medizinische Versorgung aufblüht, denn der Nationale Gesundheitsdienst hat ja nun 350 Millionen Pfund extra“, bemerkt Ahmed in seiner Apotheke zynisch. Tatsächlich hatten vor dem Referendum Politiker, die den Brexit propagierten, die Information in die Welt gesetzt, Großbritannien könne nach einem Austritt zusätzliche 350 Millionen Pfund pro Woche für den Gesundheitsdienst ausgeben. So stand es auch auf einem roten Brexit-Werbebus, der inzwischen zum Symbol für die Lügenkampagne vor dem Referendum geworden ist.

Unmissverständlich gibt sich Mike Thompson, der Geschäftsführer des Verbands der britischen Pharmaindustrie ABPI: „Während wir so eng wie möglich die Situation eines ungeregelten Brexits vorbereiten, können wir nur betonen, dass ein ‚No Deal‘ eine extreme Herausforderung darstellen wird. Wir können nur hoffen, dass in der wenigen Zeit, die übrig bleibt, das Parlament über eine schnelle Lösung zum ‚No Deal‘-Engpass übereinkommen kann und so Patienten versichern kann, dass die Arzneimittelversorgung im März nicht gestört wird.“

Am Dienstagabend soll in Westminster wieder einmal über einen neuen Plan zum Austritt Großbritanniens abgestimmt werden. Worüber genau eigentlich abgestimmt werden soll, weiß derzeit noch niemand.

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