Geetanjali Shrees Debütroman „Mai“: Die schweigsame Mutter

Geetanjali Shrees feministischer Debütroman „Mai“ ist jetzt neu erschienen. Er entwirft das Porträt einer indischen Frau, die sich unterordnen muss.

Portrait of Geetanjali Shree, sie sitzt auf einem Sofa und stützt sich mit der Hand ab.

Geetanjali Shree erhielt als erste auf Hindi schreibende AutorIn den Booker Prize Foto: Philippe Matsas/Leextra/laif

Jemanden ein Leben lang zu kennen, bedeutet noch lange nicht, diese Person auch zu verstehen. Das gilt auch für die eigenen Eltern. Mai, die Titelgeberin des Romans von Geetanjali Shree, ist die Mutter der Ich-Erzählerin Sunaina und die Hauptfigur des Romans. Aber obwohl praktisch ununterbrochen von ihr die Rede ist, kommt sie lediglich in Außensicht vor und bleibt bis zum Schluss ein Rätsel.

Der Roman erschien im Original erstmals 1993 und sorgte damals beim indischen Lesepublikum für großes Aufsehen. „Mai“ ist der seltene Fall eines Romans aus Indien, der es erfolgreich nach Europa geschafft hat, obwohl er nicht auf Englisch, sondern auf Hindi verfasst wurde.

In der deutschsprachigen Welt war es der kleine, auf indische Literatur spezialisierte Draupadi-Verlag, der Geetanjali Shrees Debütroman vor ein paar Jahren erstmals in deutscher Übersetzung herausbrachte; die aktuelle Ausgabe aus dem Unionsverlag ist eine Neuausgabe. Übrigens bekam Shree letztes Jahr als erste Hindi schreibende AutorIn den Booker Prize (für ihr letztes Buch „Tomb of Sand“, wie der englische Titel lautet).

Ein despotischer alter Herr

Geetanjali Shree: „Mai“. Aus dem Hindi von Reinhold Schein. Unionsverlag, Zürich 2023, 244 Seiten, 14 Euro.

Vom Twist-Tanzen ist einmal die Rede, später von einem der Indisch-Pakistanischen Kriege; wahrscheinlich spielt ein Großteil des Romans in den siebziger Jahren. Er erzählt vom Aufwachsen und Erwachsenwerden des Mädchens Sunaina und ihres zwei Jahre jüngeren Bruders Subodh in einem wohlhabenden Haushalt. Die Familie gehört zur Brahmanenkaste, und der Großvater war einst Großgrundbesitzer, hat jedoch als überzeugter Anhänger Gandhis seine Ländereien aufgegeben.

Aber das Anwesen, das die Familie bewohnt, ist immer noch riesig, und der Großvater ist auch ohne Ländereien ein despotischer alter Herr, der sein Leben unter anderen alten Herren lebt, ohne seine Familie groß zur Kenntnis zu nehmen – die Frauen ohnehin nicht.

Die Großmutter, scharfzüngig, eitel und vom Gatten ignoriert, betet ihren einzigen Sohn an und lebt die Bitternis ihres Daseins in spitzen Bemerkungen gegen die Schwiegertochter aus. Das ist Mai. Und Mai schweigt zu allem, geht in die Küche und kocht, was auch immer von wem auch immer gewünscht wird.

Ihr konsequentes Schweigen

Sunaina und Subodh wachsen in so engem Kontakt zur Mutter heran, dass Mai auch später immer das Wichtigste in ihrem Leben sein wird. Sie wohnen und schlafen mit ihr in einem Zimmer; und als sie älter werden, sind sie zunehmend erbost darüber, wie die Mutter von den anderen behandelt wird, und versuchen sie aus der erstickenden Enge des „Parda“ – des auch metaphorisch zu verstehenden Schleiers, der die Frauen aus der Öffentlichkeit fernhält – zu befreien.

Doch Mai selbst setzt diesen Versuchen stoische Passivität entgegen, lässt sich von einem einzigen Blick ihres Mannes davon abhalten, mit den Kindern auch nur ins Theater zu gehen, erreicht mit ihrem konsequenten Schweigen und Nicht-Eingreifen in anderen Situationen aber auch, dass diese Kinder über ihre eigenen Leben frei zu entscheiden lernen.

Am Ende müssen die Geschwister einsehen, dass die Mutter ihnen in ihrem innersten Wesen auf immer verborgen bleiben wird. Sunaina aber, die Ich-Erzählerin, erkennt etwas noch viel Wichtigeres.

Für ihren Bruder gelten andere Regeln

Tatsächlich ist die Person der Ich-Erzählerin kaum weniger rätselhaft als die der Mutter. Von sich selbst erzählt sie nur so nebenbei, während die Ereignisse in der Familie und Mais Situation stets im Mittelpunkt stehen.

Sunaina wird zwar früh bewusst, dass für ihren Bruder andere Regeln gelten als für sie selbst. Doch Brüche und andere wichtige Ereignisse in ihrem eigenen Leben bleiben praktisch unkommentiert und müssen oft aus dem Kontext erschlossen werden. Freundschaften oder Beziehungen zu Männern werden nur kurz erwähnt und verschwinden ohne Erklärung wieder aus dem Text.

Dass Sunaina, die unbedingt Biologie studieren und Ärztin werden will, statt dessen an die Kunsthochschule wechselt, ist einigermaßen überraschend; erklärt wird es mit keinem Wort. Als Künstlerin malt sie fast nur Bilder, auf denen Interieurs des Familienanwesens und geisterhafte Gestalten zu sehen sind.

Emotionale Abgründe

Damit kanalisiert Sunaina all ihre eigene Mai-Haftigkeit, also ihr mentales Gebundensein an das, was für ihr Leben vorgegeben wurde, in ihre Malerei, wandelt es um in einen kreativen Prozess, ohne es dabei jemals zu überwinden. Dass sie selbst – und nicht Mai – es ist, die sie befreien muss, erkennt sie erst nach dem Tod der Mutter.

Bis dahin liegt unendlich viel Unausgesprochenes unter der Oberfläche des Romans. Doch Sunaina, die nicht analysiert, sondern „nur“ erzählt, legt dabei das komplexe Sozialgefüge der Familie in seinen Grundzügen vollständig bloß.

Die durch starre Konventionen bedingte Entfremdung ihrer Mitglieder voneinander wird geradezu schmerzhaft sichtbar, aber nie explizit ausgesprochen. Der gelassene, fast heiter plaudernde Tonfall der Erzählung gleitet über emotionale Abgründe hinweg, die stets nur sehr kurz sichtbar werden, weil sie eigentlich nicht sein dürfen. Sie hallen aber lange nach.

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