Geburten in Deutschland: Die Epidemie des Kaiserschnitts
Jedes dritte Kind in Deutschland kommt heute per Kaiserschnitt auf die Welt. Wollen die Frauen das so oder gehen die Ärzte heute einfach nur auf Nummer sicher?
Dorothea D.s zweites Kind kam per Kaiserschnitt auf die Welt. Zur sectio caesarea, so der medizinische Fachausdruck für die operative Entbindung, hat ihr zu Beginn der Schwangerschaft ihre Frauenärztin geraten, später auch der Arzt in der Geburtsklinik. Und das, obwohl die vierzigjährige Dresdnerin ihr erstes Kind ganz normal geboren hat. Aber damals, vor zwei Jahren, hatte es Komplikationen gegeben, der Damm der Gebärenden war heftig gerissen. Bei einer zweiten Spontangeburt hätte er noch stärker verletzt werden können. Diesmal wollten die Ärzte lieber auf Nummer sicher gehen.
In Deutschland kommen immer mehr Kinder per Kaiserschnitt zur Welt. Von den 663.000 Kindern, die laut Statistischem Bundesamt 2008 geboren wurden, wurde ein Drittel so ins Leben geholt. Fachleute wie der Berliner Gynäkologe Wolfgang Henrich sprechen von einer "Kaiserschnittepidemie". 1991 betrug die Sectio-Rate fünfzehn Prozent, vor vierzig Jahren waren es noch sieben. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt eine Quote der planbaren OP-Geburten von maximal fünfzehn Prozent.
Was sind die Ursachen für den rasanten Anstieg der Geburtsart, bei der das Kind aus der Gebärmutter geschnitten wird? Eine These ist, dass keineswegs nur die Frauen den Kaiserschnitt wünschen. Vielmehr drängten immer mehr Ärzte ihre Patientinnen dazu, weil die Mediziner dann juristisch auf der sicheren Seite sind. Bevor die Frauen auf dem Operationstisch liegen, unterschreiben sie, über alle Risiken informiert worden zu sein.
"Für und Wider müssen im Einzelfall abgewogen werden", sagt Wolfgang Henrich. Er ist stellvertretender Direktor der Klinik für Geburtsmedizin an der Berliner Charité. Jeden Tag kommen zu ihm Schwangere und wollen einen Kaiserschnitttermin. Manche fürchten den Geburtsschmerz, andere wollen später nicht inkontinent werden, die nächsten haben Angst vor Verletzungen.
Die Frauen sind gut informiert. Sie machen sich Sorgen, dass sich bei der Spontangeburt die Nabelschnur um den Hals des Babys wickelt und das Kind erstickt. Sie wollen verhindern, dass das Baby Kopfverletzungen erleidet, wenn es mit der Saugglocke geholt wird. Und sie wissen, dass eine vaginale Geburt gefährlich werden kann, wenn das Kind ein sogenannter Sternengucker ist, also mit den Füßen Richtung Geburtskanal liegt.
"Die jungen, gesunden Frauen, bei denen mit Komplikationen nicht zu rechnen ist, versuche ich von einer normalen Spontangeburt zu überzeugen", sagt der Arzt: "Das ist trotz aller Unwägbarkeiten immer noch die beste Art zu entbinden. Aber Schwangeren, bei denen abzusehen ist, dass eine Spontangeburt das Leben von Mutter und Kind gefährdet, raten wir zu einem Kaiserschnitt."
Dieser Text ist der aktuellen sonntaz vom 16./17.1.2010 entnommen - ab Sonnabend gemeinsam mit der taz am Kiosk erhältlich.
Kaiserschnitt: Bei einer Schnittentbindung wird der Säugling operativ aus der Gebärmutter der Mutter geholt. Es wird ein Unterbauch-Querschnitt an der Schamhaargrenze vorgenommen. Der Eingriff, bei dem die Mutter ganz oder teilweise anästhesiert wird, dauert im Regelfall dreißig Minuten.
Verbreitung: In Deutschland hat sich die Zahl der Kaiserschnittgeburten seit 1991 von 15 auf 30,2 Prozent verdoppelt. Das heißt, dass im vergangenen Jahr jedes dritte Kind so zur Welt kam. Die meisten Kaiserschnittbabys wurden im Saarland auf die Welt geholt, dort waren es 36,8 Prozent. In Sachsen waren es nur 21,7 Prozent. In China werden inzwischen fast die Hälfte aller Schwangeren per Kaiserschnitt entbunden. Die Weltgesundheitsorganisation kritisiert, der Anstieg unnötiger Schnittentbindungen in Asien und Lateinamerika habe "epidemische Ausmaße" erreicht.
Herkunft: Schon der römische Kaiser Julius Caesar soll per Kaiserschnitt entbunden worden sein, daher der Name sectio caesarea.
Das hat Gründe: Die Mütter sind immer älter, nicht wenige haben Bluthochdruck, Zucker oder Übergewicht. Auch Mehrlingsschwangerschaften, die bei künstlicher Befruchtung immer häufiger werden, machen eine natürliche Geburt schwierig. Ein Fünftel der Erstgebärenden ist älter als 35 Jahre, drei Prozent sind über vierzig. "In diesem Alter steigen die sogenannten Schwangerschaftspathologien", sagt Henrich.
Erst neulich hatte er wieder so eine Patientin. Sie war nicht mehr die Jüngste, nur eins sechzig groß, das Kind in ihrem Bauch wog über vier Kilo. "Irgendwann hätte es der Frau die Gebärmutter zerrissen", sagt Wolfgang Henrich, es ging nur mit einer Sectio. "Früher, als die Medizin noch nicht so weit war, hätten Mutter und Kind das nicht überlebt." Würde man verfahren wie vor vierzig Jahren, als die Natur Vorrang hatte, gäbe es eine Mütter- und Kindersterblichkeit wie im 19. Jahrhundert. Heute gilt: Risikominimierung.
Auch die Frauen selbst werden immer unsicherer und wollen alles unter Kontrolle haben, sagt Katrin Mikolitch. Sie ist ganzheitliche Ärztin in Düsseldorf und kennt die weiblichen Leiden genau. "Viele Frauen haben das Vertrauen in den eigenen Körper verloren." Es sind vor allem gebildete Mittelschichtsfrauen und Akademikerinnen, die es nervös macht, wenn sie nicht genau wissen, was passiert. Heute bereiten sich Frauen akribisch auf eine Entbindung vor und sind dann oft erstaunt, wenn mit ihrem Körper etwas passiert, das sie nicht mehr im Griff haben.
Katrin Mikolitch hat in ihrer Praxis beobachtet, dass Frauen noch Jahre nach einem Kaiserschnitt krank werden, weil sie sich mit den Folgen der Operation herumquälen. "Manche Frauen können traumatisiert sein. Sie können den Schnitt in ihren Uterus als Eingriff in ihre Körperintegrität empfinden."
Eine Kaiserschnitt-OP hinterlässt nicht nur eine Narbe, sondern verursacht Schmerzen von bis zu drei Wochen. Bei dem Eingriff können Blase und Darm verletzt werden, es kann zu Nachblutungen kommen, das Thromboserisiko steigt, Folgegeburten werden komplizierter. "Ein Kaiserschnitt ist kein Spaziergang", sagt Wolfgang Henrich.
Viele Frauen, die zu Katrin Mikolitch kommen, erzählen, dass sie nach einer Sectio lange keine emotionale Bindung zu ihrem Baby aufbauen können, andere klagen über Stillprobleme. Um ihnen zu helfen, gründete die Medizinerin vor fünf Jahren das "Kaiserschnitt Netzwerk", heute gibt es bundesweit über hundert Anlaufstellen. Mit Akupunktur, Pflanzen, Gesprächen und sogenannten harmonisierenden Therapien versucht Katrin Mikolitch die Frauen zu heilen. "Es kommt darauf an, gleichermaßen die seelischen und die körperlichen Leiden zu lindern", sagt sie. Manche Frauen kommen zweimal in ihre Sprechstunde, andere ein halbes Jahr lang.
Wolfgang Henrich hält die Theorie von der mütterlichen Bindungslosigkeit nach einer Sectio für einen Mythos. Er sagt: "Das hängt nicht ausschließlich mit dem Geburtsmodus zusammen, sondern insgesamt mit der psychischen Verfassung der Frau." Auch die Theorie, Kaiserschnittbabys hätten später weniger Durchsetzungskraft, weil sie sich nicht durch den Geburtskanal gequält haben, bezeichnet er als "Quatsch".
Vor zehn Jahren schickte die Charité Frauen mit Kaiserschnittwunsch wieder weg, wenn der nicht notwendig war. Die Schwangeren gingen dann in eine andere Klinik. Heute dürfen sie bleiben. Für einen komplikationslosen Kaiserschnitt rechnet ein Krankenhaus durchschnittlich 2.800 Euro ab, für eine Spontangeburt gibt es rund 1.600 Euro.
Wolfgang Henrich findet das widersinnig: Eine normale Kaiserschnitt-OP dauert eine halbe Stunde. Bei einer Spontangeburt weiß niemand vorher, wie lange Ärzte, Hebammen und Schwestern die Kreißende betreuen. Manche Geburten beginnen normal und enden im OP. Andere sind von vornherein als Sectio vorgesehen, auch wenn das aus medizinischer Sicht nicht notwendig ist. Wolfgang Henrich sagt: "Es zählt die Selbstbestimmung der Frau."
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