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Gebäude mit Geschichte

Was die Industriebauten über die Vergangenheit von Oberschöneweide erzählen – und über die Zukunft. Die Architekturführung

Coffee-Läden, Suppenbars, Copyshops: Das ist die Zukunft von Schöneweide

VON REGINA LECHNER UND TATYANA SYNKOVÁ

Auf dem Hof der Drahtwerke lagern mannshohe Spindeln mit Kupferdrähten. Arbeiter laufen über den Hof. Sie achten darauf, dass die Drähte sich nicht verhaken, wenn sie durch das Tor in die Fabrik gezogen werden. Durch das Zaungitter schaut manchmal einer der Studenten auf dem Weg zur Mensa oder in die Bibliothek hinüber zu den Kabelwerken, denn die kleine Fabrik ist hier ein Exot. Mittlerweile. Bis zur Wende befand sich das Kabelwerk nämlich inmitten des industriellen Zentrums von Ostberlin, in Oberschöneweide.

1850 lebten nur 116 Menschen in diesem Ort rund um den Quappenkrug, ein beliebtes Ausflugslokal an der Spree. Schon 25 Jahre später war von der Idylle nichts mehr übrig geblieben: 1871 startete der erste Industriebetrieb, die Wollfärberei Nalepa. Bis zur Jahrhundertwende siedelten sich zahlreiche industrielle Großbetriebe an, die den Aufstieg, aber auch den Fall des Ortes in den kommenden Jahrzehnten beeinflussten. Oberschöneweide wurde zu einem Zentrum der Elektroindustrie in Deutschland.

Zwischen Spree und Wilhelminenhofstraße reihen sich die Fabrikbauten aneinander. Dahinter erstreckt sich eine schmale Wohngegend bis zur Wuhlheide. Arbeiten, Wohnen, Erholen lautete das städteplanerische Konzept, nach dem Schöneweide errichtet wurde. Kulturelle Unterhaltung, gute ärztliche Versorgung und Familienfreundlichkeit waren Gesichtspunkte, die ebenso in die Planung einflossen. Eine ähnliche Struktur hat auch die Siemensstadt, ein Industriestandort, der fast zeitgleich zu Schöneweide im Westen Berlins aufgebaut wurde.

Die grauen oder ockerfarbenen Backsteinhallen entlang der Spree sind Zeugnisse von über 100 Jahren Industriegeschichte. Viele der Hallen wurden um 1900 erbaut und in den kommenden Jahren immer wieder erweitert und umgebaut, als in den Werken immer größere Maschinen und Anlagen Platz finden mussten. Das Straßenbild ist daher von mehreren Stilrichtungen geprägt: Backsteingotik und Jugendstil, aber auch bereits Merkmale der Neuen Sachlichkeit. Ein Großteil der Industriebauten steht unter Denkmalschutz, genauso wie einige Wohnhäuser in der Wilhelminenhofstraße. Die Werkanlagen haben zur Straße hin eine Schauseite aus gelbem Klinkerstein erhalten, die Wohn- und Geschäftshäuser auf der gegenüberliegenden Seite zeichnen sich durch eine schmuckvolle Putzdekoration im Jugendstil mit filigranen dekorativen Elementen aus. Die verschnörkelten Fassaden erinnern an die Gründerzeitbauten in Dresden und Leipzig und wurden in den vergangenen Jahren aufwendig restauriert.

Weniger prunkvoll ist die große Montagehalle an der Ecke zur Edisonstraße. In großen roten Buchstaben prangt „AEG“ an der grauen Fassade der Rathenau-Hallen. Ihr Namensgeber Emil Rathenau begegnet einem immer wieder in Schöneweide. Der Gründer der „Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft“ (AEG) siedelte von 1897 an mehrere Betriebe in Oberschöneweide an, als der Platz im Zentrum Berlins zu eng wurde. Darunter auch das Transformatorenwerk (TRO), das seit 1928 in dieser Halle produzierte. Nach einer Erweiterung ist das Innere der Halle 33 Meter breit und 21 Meter hoch. Das Gerüst des Stahlskelettbaus ist teilweise nach außen hin erkennbar. Zur Straßenfront wurde der Bau mit einem Knickgiebel versehen, der das Dach verdeckt und so besonders mächtig wirkt.

Der Bau weist viele Gemeinsamkeiten mit der Turbinenhalle auf, die die AEG im Berliner Stadtteil Moabit errichten ließ. Ihr Architekt Peter Behrens realisierte damit einen Entwurf, der richtungsweisend für die Industriearchitektur der Jahrhundertwende sein würde.

Wie alle Betriebe in Schöneweide wurde das Transformatorenwerk nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Sowjetunion enteignet und in der DDR als Volkseigener Betrieb (VEB) fortgeführt. Nach der Wende standen die Bänder in allen Hallen des Ortes still, die Zukunft war ungewiss. Zumindest dieses Gelände kaufte die AEG 1992 zurück und wollte den Betrieb wieder aufnehmen. Doch 1996 ging das Unternehmen pleite.

Künstler und Eventveranstalter entdeckten die leer stehenden Hallen schließlich für ihre Zwecke. Das Modelabel Boss Orange veranstaltete eine Modenschau in den Rathenau-Hallen. Gegenüber, in der einstigen Kantine des Werkes, befindet sich nun das Atelierhaus 79. Nebenan schweißt die Künstlergruppe Dead Chickens Monster aus Schrott zusammen. Einige Meter weiter hat die Karl-Hofer-Gesellschaft ihren Sitz. Sie fördert junge Künstler.

Unter den Überresten einer stillgelegten Kranbahn verläuft der Weg zum neuen Stadtplatz. Zur Rechten stehen vier marode Hallen, die sich in ein Zentrum für internationale Gegenwartskunst verwandeln sollen. Erfolgreiches Vorbild der „Schauhallen“ ist das Londoner Tate-Modern-Museum, das in einem ehemaligen Kraftwerk residiert. Anstatt zu sanieren, setzen die Macher allerdings auf eine orangefarbene Hülle, die das 14.000 Quadratmeter große Gelände umgeben wird.

Bereits vor zwei Jahren wurde der neue Stadtplatz fertiggestellt. Karg und betonlastig. Die Schornsteine der angrenzenden Werke ragen in den klaren Himmel. Es ist kaum vorstellbar, welch Lärm in der Stadt geherrscht haben mag, dazu der Qualm der Schornsteine, die Chemikalien, die ungefiltert in die Spree geleitet wurden, und der mit Schmieröl getränkte Boden, der keinen Baum mehr wachsen ließ.

In Schöneweide kehrte Ruhe ein, nach dem Ende der DDR und ihrer Volkseigenen Betriebe. Fast wie zu jener Zeit, als die Industrie noch keine Spuren hinterlassen hatte.

Arbeiten, Wohnen, Erholen: Das war das Konzept der Stadtplaner für Schöneweide

Doch seit zwei Monaten ist es nun wieder deutlich voller und lauter geworden auf den Straßen des Ortes. Mit der Eröffnung der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) und deren neuem Hauptsitz in Schöneweide kommen täglich 6.000 Studenten in den Ort. Die Universität ist der neue große Hoffnungsschimmer. Auch sie sitzt in ehemaligen AEG-Gebäuden, dem früheren Wilhelminenhof. 2005 begann die Sanierung und Umgestaltung der alten, denkmalgeschützten Backsteingebäude zu Hörsälen, Laboren, Mensa, Bibliothek und Cafeteria. Das morbide Industrieflair vermischt sich nun mit studentischem Lebensgefühl. Am Rathenau-Platz, vor dem Eingang der Hochschule, sieht man den Wandel am deutlichsten. In den 90er-Jahren standen fast alle Läden und Lokale leer. Nun gibt es Coffee-to-go-Läden, eine Suppenbar und Copyshops.

Als Wahrzeichen der Stadt überragt die Spitze des quadratischen Behrens-Turms alle anderen Bauten. Er ist Teil der monumentalen dreischiffigen Fabrikanlage. Sie wurde 1916 nach Plänen von Peter Behrens errichtet für ein neues Tochterunternehmen der AEG, die Nationale Automobil-Gesellschaft. Zuerst wurden hier Autos gefertigt, später Nutz- und Militärfahrzeuge, aber auch Fernsehgeräte und Telefonanlagen. 1960 erfolgte schließlich die Umbenennung in „Werk für Fernsehelektronik“, das vor allem Bildröhren herstellte. Auf dem Dach des 70 Meter hohen grauen Wasserturms steht nun ein Schild mit dem Firmennamen Samsung. Doch auch der koreanische Konzern verließ Oberschöneweide vor drei Jahren, als der deutsche Standort unrentabel wurde.

Seitdem wird auch dieser Bau für Veranstaltungen genutzt. Von außen streng und sachlich, beeindruckt er vor allem durch sein Inneres: Als Eingangshalle dient ein vier Stockwerke hoher Lichthof, der von Arkadengängen umsäumt ist. Hinter den vergilbten Fenstern im Erdgeschoss lagern immer noch einige zurückgelassene Geräte und Messanlagen. Rauchende Fabrikschlote und ratternde Fließbänder wird es hier aber wohl nie wieder geben. Einige der Gebäude werden jedoch für kurze Zeit an Zwischennutzer vermietet. Den Aufschwung sollen kulturelle Institutionen und vor allem die Hochschule bringen. Investoren mit großen Ideen gibt es zwar genügend, das Geld für den Umbau und die Sanierung allerdings nicht. Auch beim ambitionierten Projekt Schauhallen musste der Baubeginn verschoben werden.

Das Potenzial ist sowohl durch den Standort als auch durch die Städteplanung gegeben. Doch bis aus einer Industriegesellschaft eine Kulturgesellschaft wird, kann es noch Jahre dauern. Denn dafür braucht es vor allem das Interesse der Einwohner von Berlin.

Seit 10 Jahren gibt Michael Voigtländer vom Berliner Büro für Industriekultur Architekturführungen durch die Industrielandschaft von Oberschöneweide. Vom Bahnhof Schöneweide bis zum Krancafé erzählt er die Geschichte der vergangenen 150 Jahre. Informationen unter: www.berlin-industriekultur.de