■ Gastkommentar: Erwartungen zu hoch
Die Grünen laufen Gefahr, nur die negativen Erfahrungen zum Gegenstand ihrer Reflexionen zu machen. Niemand konnte nach der Bildung der Ampelkoalition ernsthaft erwarten, daß man mit 10 % Stimmen 90 % Gewinne einfährt. Ich befürchte, daß angesichts der hohen Erwartungen bei einem Teil der grünen Mitgliedschaft dennoch ein Bewußtsein dafür fehlt, wie schwierig das Regieren in einer pluralistischen, lobbyistisch organisierten Gesellschaft mit widerstreitenden Interessen ist.
Die Erfahrungen des Mitregierens müssen im Sinne eines Lernprozesses aufgearbeitet und dadurch für notwendige Korrekturen in der zweiten Halbzeit produktiv gewendet werden. Dem institutionellen Gewicht zweier Ressorts, die im Machtpoker der Politik mal schlechter und mal besser mitmischen, auf der Haben-Seite steht auf der gesellschaftlichen Soll-Seite ein Verlust an Vertrauen und Glaubwürdigkeit bei einem Teil des sogenannten Initiativensektors und bestimmter grüner Klientelgruppen gegenüber (Uni-Ost, Weidedamm, Flughafen u.a.). Einerseits konnte in beiden Ressorts einiges bewegt werden, ohne daß es den politischen Druck seitens einer starken „grünen“ Lobby gegeben hätte (Wasserspargesetz, Sonderabfallabgabe, Absicherung für soziokulturelle Projekte etc.). Andererseits konnte man sich nicht des Eindrucks erwehren, daß sich unsere Ressortmatadoren noch zu oft im institutionellen Gestrüpp verheddern.
Angesichts der Trägheit der grünen Mitgliedermasse, die bisher dem Treiben der grünen Senatoren im Senat relativ gelassen zuschaut, hat Landesvorstandssprecher Hindriksen schon mal vorgedacht und im grünen Mitgliederinfo eine Halbzeitbilanz vorgelegt. Doch statt als Mitglied des Koalitionsausschusses Lernerfahrungen zu vermitteln und Korrekturmöglichkeiten aufzuzeigen, erschöpft sich seine Bilanz in der mittlerweile langweilig gewordenen Beschreibung des strukturellen Ungleichgewichts zwischen Vorstand, Fraktion und Senatoren und in einer Erinnerung der Mitglieder daran, daß wir im Kapitalismus leben und die meisten grünen WählerInnen davon profitieren. Zu offensichtlich ist diese Bilanz mit dem Interesse an persönlicher Eigenprofilierung als Bundestagskandidat und der Zuspitzung auf eine bestimmte politische Option hin verknüpft. Die zentrale Botschaft: Die Bremer Ampel ist angesichts der bislang gemachten Erfahrungen kein Aushängeschild für eine mögliche Koalition aus SPD, Grünen und FDP in anderen Bundesländern oder auf Bundesebene. Lothar Probst
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