Gastkommentar: Begehren zu teuer
■ Mehr Volksbegehren führen zu Frust
Alle müßten jauchzen. Nicht der Frust soll weiterhin in Bremen regieren, mit dem Verein „Mehr Demokratie“ soll Bremen politisch wiederbelebt werden. Wo den Bürger seit Jahren keine Parlamentsinitiative begeistert und wo der Senat einem kopfschüttelnden Publikum immer neue Variationen von Vergnügungsparks als Weg aus Bremens Misere andient, sollen jetzt Bürgerinitiativen über Volksentscheide die wahren Probleme angehen. Lebendige Demokratie von unten tritt an die Stelle des sklerotisierten politischen Apparates.
So weit, so gut. Nachvollziehbar ist auch, daß mehr Leben nur dann in die Politik kommt, wenn Volksentscheide nicht immer zwangsläufig ins Leere laufen müssen, sobald die gewünschten Maßnahmen Geld kosten. Hier war in der Vergangenheit jeder Volksentscheid zu Ende. Was aber kein Geld kostet, braucht keinen Volksentscheid, weil es kostenlose Politik nicht gibt. Das Volk will also mit seinen Entscheiden Zugriff auf die Staatsfinanzen. Darüber müßte ernsthaft debattiert werden, wenn es in Bremen Staatsfinanzen gäbe, auf die sich ein Volksentscheid beziehen könnte.
Nehmen wir an, es käme 1999 zu einem Volksentscheid neuen Typs, der für bestimmte Schulsanierungsmaßnahmen 600.000 Mark ansetzte. Nun weiß aber jedermann, daß Bremen in 1999 keinen halbwegs gedeckten Staatshaushalt besitzen wird, also auch keine 600.000 Mark für den Volksentscheid. Und für die kommenden Jahre wird das weiter gelten. Wenn also überhaupt Geld für Maßnahmen da sein wird, dann nur über weitere Verschuldung. Und wieder weiß jeder, daß die Schulden der Freien Hansestadt jetzt schon mehr als 20 Milliarden Mark betragen. Wer in Bremen öffentliches Geld ausgeben will, muß also Schulden machen, anders ist keine Maßnahme zu finanzieren.
Die so bewundernswerten Initiatoren der neuen Volksentscheidbewegung geraten unweigerlich in die gleiche Blockade wie die gescholtenen Parlamentarier oder wie der Senat. Wo es keine halbwegs gedeckten öffentlichen Haushalte mehr gibt, gibt es auch keine Politik.
„Mehr Demokratie“ wird am Ende noch zu mehr Frust führen, solange Bremens Finanzprobleme ungelöst bleiben. Wenn jetzt auch politische Parteien wie die Grünen und die AfB sich für den neuen Volksentscheid stark machen, übersehen sie, daß ihre eigene gegenwärtige Entscheidungsnot im Parlament notwendigerweise auch die Entscheidungsnot des Volkes sein wird. Alle so bewundernswerten Basisaktivitäten müssen also mit der Frage beginnen: Wie geht es mit dem Stadtstaat Bremen weiter im föderativen System der Bundesrepublik Deutschland? Wer die Antwort nicht weiß, braucht auch keinen Volksentscheid. Es sei denn, er setzt ihn konsequent zum Sparen ein. Der Volksentscheid als bürgernaher Rotstift, kann das „Mehr Demokratie“ leisten? Horst-Werner Franke,
Senator a. D.
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