Gastkommentar zu Rot-Rot-Grün in Berlin: Mehr APO wagen
Grüne und Linke wollen Demokratie auch jenseits der Parlamente fördern. Die Berliner Initiativen sollten sich deswegen zu einem Netzwerk zusammenschließen.
![Berliner Initiative Wassertisch Berliner Initiative Wassertisch](https://taz.de/picture/1601400/14/18384434.jpeg)
O ft sind soziale Bewegungen der Zeit weit voraus, aber zuweilen pennen sie gewaltig. Es gehört fast zum guten Ton in Berlin, von Rot-Rot-Grün nichts zu erwarten – weder in der Mieten- noch in der Verkehrs-, Bildungs- oder Kulturpolitik. Das ist ja so falsch nicht!
Aber zuweilen gibt es symbolische Blümchen, die sollte man schon pflücken wollen: Rot-Rot-Grün steht unter erheblichem Legitimationsdruck. Die Koalitionspartner müssen etwas vorweisen. Grüne und Linke planen deshalb, etwas zu mehr Demokratie in den Koalitionsvertrag zu schreiben. Sie haben erkannt, dass ein wenig mehr Demokratie in den Bürgerbegehren, Transparenzversprechen und fleißigen Untersuchungsausschüssen zum BER der verstockten Demokratie wenig auf die Beine helfen.
Kurzum: Grüne und Linke wollen zu mehr Demokratie ermuntern, die Zivilgesellschaft stärken, demokratische Experimente in Maßen zulassen. Michael Müller, der neue und alte Regierende Bürgermeister, ist, so hört man auf den Verhandlungsfluren, eher noch zurückhaltend.
Es geht um eine Stabsstelle/einen Beauftragten für „Bürgerengagement und Demokratie“ oder eine Stelle für „Mehr Demokratie“. Die soll sehr autonom und nur formal dem Regierungschef Müller unterstellt sein. Diese soll mit fünf bis sechs Mitarbeitern ausgestattet sein – ähnlich dem Modell bei Kretschmann in Stuttgart –, und über einen Etat von 10 Millionen verfügen. Sie hat vielfältige Aufgaben der Förderung von demokratischen Initiativen der Zivilgesellschaft, soll Volksbegehren, Stadtteilinitiativen, Zukunftswerkstätten, Öffentlichkeitskampagnen unterstützen, aber auch Expertisen erstellen.
Umstritten ist, wer das Personal an der Spitze auswählt: ein Koalitionsausschuss, der Regierende Bürgermeister – oder, was einer kleinen Sensation gleichkommen würde: das Netzwerk der außerparlamentarischen Initiativen. Noch ist in den Koalitionsverhandlungen nichts abschließend entschieden – es köchelt und man kämpft.
Jahrgang 1942, Hochschullehrer a. D. für Politikwissenschaft (FU Berlin) im Unruhestand und Akteur sowie Berater in sozialen Bewegungen.
Wie immer das auch ausgeht: Die Erwartungen sollten nicht zu hoch gesteckt sein. Aber Politik als Symbol hat auch seine eigene Dynamik. Denn wie immer knospenreich das Blümchen „Mehr Demokratie wagen“ ausfallen wird, klar ist schon jetzt, dass die sozialen Bewegungen in Berlin auf eine solche Innovation wenig vorbereitet sind.
Bisher galt: Jede Bewegung, ob Instandbesetzerbewegung, Mieterbewegung, Stadtteilbewegung oder Rekommunalisierungsbewegung Wasser, machte ihr Ding nach besten Kräften. Alle Versuche, über ein „Stadtforum von unten“, einen permanenten Ratschlag oder das Berliner Sozialforum ein lockeres, aber handlungsfähiges Netzwerk zu schaffen, das die jeweiligen Dynamiken verstärkt, waren zum Scheitern verurteilt. Die Bewegungen und vor allem das Personal waren überfordert.
Aber jetzt steht durch die grün-linke Initiative möglicherweise ein Gelegenheitsfenster offen, das es zu nutzen gilt. Hamburg hat eindrucksvoll vorgemacht, dass so ein Bewegungsnetzwerk möglich ist – organisatorisch, dezentralisiert und sogar bei den Konflikten zumindest teilweise erfolgreich.
Berlin sollte rasch von den Erfahrungen in Hamburg, Stuttgart, Köln, Wien und London profitieren und mit einem „Netzwerk i. G.“ zeigen, dass es einen machtvollen Bewegungs- und Demokratieakteur gibt. Wer mehr direkte Demokratie fordert, muss auch selbst demokratisch legitimierte außerparlamentarische Strukturen schaffen.
So gesehen liegen die Hausaufgaben für die außerparlamentarischen Initiativen auf der Hand: Aufbau eines Netzwerkes für außerparlamentarische Initiativen (Napi). Mieterinitiativen, Haus der Demokratie, Wassertisch, Mehr Demokratie e. V., Bürgerinitiativen, Bürgerrechts- und Menschenrechtsgruppen, Ökoprojekte, Jugendorganisationen, Flüchtlingsinitiativen, Sozialinitiativen, Attac, Greenpeace, Interventionistische Linke (IL) und viele andere mehr müssten sich zu einem Ratschlag treffen und über eine vorläufige Aufgabenstellung, Organisations- und Personalstruktur entscheiden. Eine eher kleine Erfahrungskonferenz mit anderen Bewegungsnetzwerken wäre gut – und müsste wieder gelernt werden. Kurzum: Napi ist das Gebot der Stunde.
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