Gastkommentar Razzien gegen Syrer*innen: Die Möbel wieder auf Ebay stellen
Der syrische Journalist Yahya Mas'ud kommentiert aus Sicht der Betroffenen: Die Razzien sind Ergebnis eines um sich greifenden Hassdiskurses.
D ie Fotos von Möbeln, welche von immer mehr Syrer*innen in Istanbul online zum Kauf angeboten werden, rufen Erinnerungen an unsere erste Fluchtreise aus Syrien wach. Die Geflüchteten sind bereits Experten im Fliehen und Entwurzelt-Werden. Sie wissen, sie werden ihren Hausrat in Istanbul verkaufen müssen, bevor sie diese Stadt für immer verlassen. Sie werden den Verkaufserlös brauchen, um in den Städten, in die zurückzukehren man sie zwingt, neuen Hausrat zu erwerben – oder vielleicht um in Idlib ein Zelt zu kaufen.
Seit zwei Wochen greifen innerhalb der syrischen Community in der Türkei Angst und Verunsicherung um sich, nachdem die türkischen Behörden eine breit angelegte Kampagne gestartet haben, von der etliche Städte mit einer hohen Zahl von syrischen Geflüchteten betroffen sind, an vorderster Stelle Istanbul. Ziel dieser Kampagne ist die Festnahme derjenigen Syrerinnen und Syrer, die dort ohne offizielle Papiere leben, oder aber mit Papieren, die ihnen in anderen Städten ausgestellt wurden, wo sie sich zuvor aufgehalten haben. Davor wurden sie gezwungen, „freiwillige“ Rückkehrerklärungen zu unterschreiben.
Für die mehr als 3,5 Millionen von uns Syrerinnen und Syrern, die wir in der Türkei leben, wird die Lage immer bedrohlicher. Unsere Ausweise sprechen uns nur „temporären Schutz“ zu, aber keine Anerkennung als Geflüchtete. Für viele von uns bedeutet das eine nahezu unerträgliche Situation. Eine große Anzahl unter den Geflüchteten hatte gar keine andere Wahl als sich jenen temporären Schutzausweis gleich nach ihrer Einreise in die Türkei in einer der Städte im Süden ausstellen zu lassen. Aus Erwerbsgründen haben sie sich dann aber in einer der Großstädte wie Istanbul niedergelassen. Andere wiederum, die zwar ihren Antrag in Istanbul stellen konnten, wurden dort abgelehnt und mussten sich jenen Ausweis notgedrungen in nahegelegenen Städten wie Bursa ausstellen lassen.
Derzeit verfolgen die türkischen Behörden solche von ihnen als „Rechtsbrecher“ betrachteten Syrerinnen und Syrer ohne jede Rücksicht darauf, dass deren zwangsweise Rückführung in die Städte, wo ihre Ausweisdokumente ausgestellt worden waren, zur Folge hat, dass sie dort buchstäblich auf der Straße sitzen. Ganz abgesehen davon, dass die kleineren Städte in der Türkei ohnehin keine Erwerbsmöglichkeiten für uns Syrerinnen und Syrern bieten.
Diejenigen aber, die nach Syrien abgeschoben werden, finden sich in der schwersten nur erdenklichen Lage wieder. Denn die überwiegende Mehrheit von ihnen stammt nicht aus Nordsyrien. Sie wurden aus verschiedenen Gegenden Syriens vertrieben, wie etwa aus dem Großraum Damaskus oder aus Homs. Das bedeutet also, sie verfügen dort im Norden über keinerlei Beziehungen oder Kontakte, die ihnen Unterschlupf ermöglichen könnten.
Zumal ja viele Bewohner Idlibs momentan selber ohne ein Dach über dem Kopf zwischen den Olivenbäumen dahinvegetieren, vor den Luftangriffen fliehend. Nach Angaben der Vereinten Nationen hat die seit drei Monaten andauernde Militäroperation im Nordwesten Syriens schon über 400.000 Personen in die Flucht getrieben. Wen man in einer solchen Situation nach Syrien zurückschickt, den schickt man im wahrsten Sinne des Wortes in sein Verderben.
Diese brutalen Maßnahmen entspringen keiner momentanen Laune, sondern sind das Ergebnis eines in der Türkei immer weiter um sich greifenden Hassdiskurses gegen Geflüchtete und Migrant*innen im Allgemeinen und gegen Menschen aus Syrien im Besonderen. Vor den jüngsten Kommunalwahlen war es zu einer systematischen Instrumentalisierung des Themas der syrischen Geflüchteten gekommen.
Die Oppositionsparteien und die Regierungspartei überboten sich gegenseitig in xenophoben Ausfällen. Im Istanbuler Innenstadtbezirk Fatih ließ die Kandidatin der oppositionellen İyi Parti, İlay Aksoy, in ihrem Wahlbezirk Transparente mit der Aufschrift „Ich werde Fatih nicht den Syrern überlassen“ auf. Gleichzeitig versprachen alle Parteien, härtere Maßnahmen gegen „die Syrer“ zu ergreifen. Aber welche Maßnahmen könnten noch härter sein als unsere ohnehin miserable rechtliche Situation in der Türkei? Die jüngste Kampagne scheint darauf eine klare Antwort geben zu wollen.
Yahya Mas'ud ist das Pseudonym eines in der Türkei lebenden syrischen Journalisten. Er ist Politikredakteur bei einer arabischen Zeitung.
Aus dem Arabischen von Raphael Sanchez
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