piwik no script img

Gastfreundliche Insel„Is al god“

Borkum ist die erste ostfriesische Nordseeinsel, die Flüchtlinge aufnimmt. Und das reibungslos. Hetze ist bislang nur vom Festland zu hören.

Angekommen nach einer sehr langen Reise: die BorkumerInnen begrüßen Flüchtlinge auf ihrer Insel. Foto: Thomas Schumacher

Borkum taz | Kein Aufstand. Die Katastrophe findet nicht statt. „Was die BorkumerInnen leisten, ist phänomenal“, schwärmt Fokke Schmidt von der Borkumer Flüchtlingshilfe (BFH). Selbst die zwei Ureinwohner palavern am Tresen: „Man seit dem ja nich. Sin tscha boven. Is al god“ – zu Hochdeutsch: „Man sieht sie nicht. Die sind da draußen. Alles ist gut.“

Boven – draußen – das ist die fünf Kilometer von der Stadt entfernte Jugendherberge. Dorthin sind seit letzter Woche Freitag 300 Flüchtlinge in die Erstaufnahme eingewiesen worden. Der erste Eindruck ist mäßig: Das 15 Hektar große Gelände der ehemaligen Kaserne ist umzäunt. Dunkle, rote Backsteinhäuser sind um einen asphaltierten Appellplatz sortiert. Seit 1996 ist das Anwesen die größte Jugendherberge Europas. Drei Häuser sind jetzt für Flüchtlinge vorgesehen. In den anderen Häusern urlauben „normale“ Gäste. Einen durch die Essensausgabe geteilten Raum teilen sich alle morgens, mittags und abends.

„Konflikte gibt es nicht. Wir haben keine Stornierungen“, sagt Herbergsleiterin Petra Bötcher. Der Appellplatz liegt verwaist, die Spielplätze rund um den Platz sind leer. „Komisch, sonst spielen die hier den ganzen Tag Fußball. Iraner gegen Afghanen“, sagt Bötcher. Aber alle Türen sind offen. Hier wird keiner kontrolliert und der Landkreis hat allen ausländischen Gästen für die Zeit ihres Aufenthaltes kostenlose Busfahrscheine gegeben. Offenkundig werden sie genutzt.

Seit dem 16. Oktober sind die Flüchtlinge da. „Frem`schiet“, wie Insulaner alle Zugereiste zu nennen pflegen. Jetzt sind es aber richtig Fremde. Menschen mit anderer Hautfarbe und exotischen Sprachen. Mit nix am Leib als ihrem Leben und vielleicht den Handys: die Verbindung zu Freunden und Familie und zu Verkehrsmeldungen auf dem langen Weg von Syrien, Afghanistan, Iran, Pakistan und Irak nach Borkum.

Der Bürgermeister kann ruhig Urlaub machen. Er hat ja uns, seine Bürgerinnen und Bürger

Andreas Langhau, Borkumer Forum

Schon in den 1920er Jahren hatte Borkum lange vor Hitlers Machtübernahme folgendermaßen für sich als Ferieninsel geworben: „Borkum ist garantiert judenfrei.“ Doch seit der Zuweisung der Flüchtlinge scheint das Bessere in den Insulanern schier zu explodieren. Zwar murren vereinzelt Urlauber und beschimpfen die ausländischen Gäste als „Pulloverschweine“, ansonsten zeigt Borkum bemerkenswerte Gastlichkeit.

„Es gibt immer Spinner, aber wir sind überwältigt über die freundliche Aufnahme der Menschen“, freut sich Andreas Langhau vom Borkumer Forum für Flüchtlinge, einer Aktion der drei Borkumer Kirchengemeinden. Nur nur auf dem Festland wird geätzt. Die Allgemeine Wählervereinigung AWG, eine rechte Wählergemeinschaft im Landkreis Leer, vertreten im Leeraner Stadtrat und im Kreistag, ließ sich zu dieser Presseerklärung hinreißen: „300 Flüchtlinge auf Borkum in der Jugendherberge unterzubringen, bedeutet das Ende der beliebten Urlaubsinsel. Es ist unverantwortlich, jeden Flecken des Landkreises unüberlegt mit Zugereisten zu besetzen. ‚Sofort abschieben‚ kann nur das Motto lauten.“ Sprachrohr der AWG ist ein Leeraner Rechtsanwalt. Er wird nahezu regelmäßig wegen Volksverhetzung und Beleidigung belangt, wünschte Behinderten schon mal, sich doch bitte „selbst der Endlösung zuzuführen“.

Nichts von solchem Hass ist auf Borkum zu spüren. Im Gegenteil: „Nur auf Gerüchte hin, wir würden vielleicht Flüchtlinge aufnehmen, haben wir uns Anfang des Jahres organisiert“, erinnert sich Fokke Schmidt. Sofort bekamen die Flüchtlingshelfer Spenden: fünf Tonnen Kleider konnten sie schon vor der Ankunft der ausländischen Gäste in die Erstaufnahme Wittmund aufs Festland schicken. Jetzt stapeln sich in fünf Zimmern der Jugendherberge Kleider, Spielzeug und Artikel des täglichen Bedarfs. „Es ist der Wahnsinn“, sagt Schmidt begeistert.

„Da müssen wir ran“

Über 900 Menschen auf Borkum und am Festland unterstützen die Flüchtlingsinitiative. Gefordert sind beide Seiten: „Allein vom Festland aus könnte die ganze Arbeit wegen der vielen Fahrerei gar nicht bewältigt werden“, sagt Andreas Langhau vom Borkumer Forum für Flüchtlinge. „Da müssen wir Borkumer ran.“ Das Forum kümmert sich um die soziale Betreuung der Flüchtlinge und will jetzt Sprachkurse anbieten; die Flüchtlingshilfe ist für Sach- und Geldspenden zuständig. Sie unterhält auch die Kleiderkammer in der Jugendherberge. Dass der Borkumer Bürgermeister just in der stressigen Aufnahmephase in Urlaub gefahren ist, kommentiert Langhau gelassen: „Das kann er ruhig. Er hat ja uns, seine Bürgerinnen und Bürger.“

„Wo sind die verdammten Kinderspielzeuge? Windeln, wo sind die Windeln?“, Fokke Schmidt wühlt sich durch fünf Zimmer mit Stapeln von Kisten, Kasten und Säcken. In einer halben Stunde soll ein Spielzimmer eingerichtet sein. Denn heute kommen zum ersten Mal Familien mit kleinen Kindern auf die Insel. Bei der Ankunft am Hafen begrüßen Mitglieder des Borkumer Forums traditionell die Ankommenden. Etwas gespenstisch schiebt sich die Sonderfähre an den Anleger. Die Eingänge sind mit schweren Stahlrollläden verschlossen. Langsam werden sie hochgezogen. Kurze Zeit passiert nichts. Dann verlässt eine Familie mit einem Baby als erste das Schiff. Eine ehrenamtliche Betreuerin bricht in Tränen aus. Der Anblick dieser Kinder, wochenlang aus Asien nach Europa auf der Flucht, das ist zu viel für sie.

Doch dann entspannt sich alles. In kleinen Trupps kommen die Flüchtlinge durch den Passagierweg, begleitet von Helfern der Roten Kreuzes. Viele beantworten das Begrüßungswinkern der Borkumer mit einem freundlichem Lächeln. Manche winken fröhlich zurück. Die Menschen aus Afghanistan, Syrien und Irak sind dem fünffach überbelegten Aufnahmelager in Bramsche entkommen. Eine Ehrenamtliche vom Forum erinnert sich: „Die erste Gruppe vom Freitag hatte es viel schwerer. Die kam in einem Rutsch aus Bayern, die meist jungen Männer waren völlig erschöpft.“ Einige Flüchtlinge gerieten in Panik. Niemand hatte ihnen erklärt, wohin die Reise gehen würde. Dann landeten sie am Meer und sollten auf ein Schiff „Die hatten panische Angst, sie würden irgendwo ausgesetzt“, meint Langhau.

Nahezu Selbstaufgabe

Der Einsatz aller Beteiligten grenzt an Selbstaufgabe: „Wir wussten erst einen Tag vorher ungefähr, wer, wann, wie kommt. Trotzdem mussten wir Strukturen für die Aufnahme so vieler Menschen schaffen,“ erinnert sich Herbergsleiterin Bötcher. Das Problem: Zwar hat die Jugendherberge noch Gäste, aber ab Ende Oktober ist die Saison zu Ende und das Haus faktisch geschlossen. „Die MitarbeiterInnen verzichten vorerst auf Urlaub. Wir haben Saisonverträge verlängert und wir müssen auch neue Kräfte einstellen“, sagt Petra Bötcher.

„Oberste Priorität war, die Menschen aus den unwürdigen Zeltstätten und überfüllten Notunterkünften herauszuholen“, erklärt die Sprecherin des Landkreises, Maike Duis. Auf Borkum hätten sie ein Dach über dem Kopf, wohnten in großzügigen, warmen Einzel- und Familienzimmern, bekämen drei Mahlzeiten am Tag. Alle behördlichen und medizinischen Untersuchungen könnten dort vorgenommen werden, sagt Duis. „Alles weitere, Integrations- und Sprachkurse, Freizeitangebote, wird in den nächsten Tagen organisiert.“

LandkreismitarbeiterInnen sind vor Ort, um die Bedürfnisse der Borkumer Neugäste herauszufinden. Eines steht bereits auf der Tagesordnung: Es soll eine regelmäßige medizinische Sprechstunde in der Herberge stattfinden, das Klinikum Borkum soll die Akutversorgung, zum Beispiel von Schwangeren, sicherstellen. Insgesamt 4.000 Flüchtlinge sollen in diesen Tagen laut Beschluss des niedersächsischen Innenministeriums in 20 Städten und Landkreisen untergebracht werden – in Orte, die bis Ende vergangener Woche noch keine Unterkünfte oder gar Erstaufnahme-Einrichtungen hatten. „Alles, was besser ist als Turnhalle, ist gut“, sagt Maike Duis dazu.

An manchen Orten scheint es eng zu werden. Der Landrat von Wittmund hat Alarm gegeben, er könne niemanden mehr unterbringen. Auch im Landkreis Leer gibt es noch mehr Erstaufnahmen in Turnhallen und Gewerbeimmobilien. Neben den aktuellen Notunterbringungen gibt es noch die regulären Zuweisungen von Menschen, deren Asylantrag bearbeitet wird. So werden beispielsweise auf Borkum ab November 35 Asylbewerber erwartet, die in Wohnungen der Gemeinde untergebracht werden sollen.

Die Freiwilligen nicht ausnutzen

„Die Jugendherberge Borkum ist ein sehr guter Ort“, sagt Engeline Kramer, über 20 Jahre Ausländerbeauftragte des Landkreises Leer. Sie hat gekündigt, weil ihrer Meinung nach der Landkreis Ausländerpolitik nicht ernst nimmt. Heute arbeitet sie als Trainerin für interkulturelle Kommunikation. Über das ehrenamtliche Engagement ist sie verblüfft. „Die Leute auf Borkum sind toll. Aber sie dürfen nicht ausgenutzt werden“, sagt Kramer. „Die Landkreise und Gemeinden bekommen Geld für die Flüchtlinge. Die Kommunen sollten erst mal alle notwendigen Leistungen erbringen, bevor sie Ehrenamtliche einsetzen.“

„Lug und Trug“

Kramer schüttelt den Kopf über die Hetze gegen Flüchtlinge im Internet. „Lug und Trug“, nennt sie das. „Die Leute, die meinen, Flüchtlinge ziehen Geld ab, haben nichts verstanden.“ Flüchtlinge seien ein Wirtschaftsfaktor. Vermieter verdienten sich dusselig, die Behörden kauften den Einzelhandel für Dinge des täglichen Bedarfs leer: „Auch der Borkumer Einzelhandel freut sich.“

Fokke Schmidt von der Flüchtlingshilfe beruhigt das nicht. Ende November soll offiziell die Unterbringung in der Jugendherberge beendet sein. Inoffiziell wird ein Termin Ende Februar genannt. „Und es bleibt ja nicht bei unseren 300 Gästen. Die werden ja schon jetzt wieder aufs Festland verteilt, wenn sie irgendwo Angehörige haben oder einfach weg wollen oder schon Fahrkarten zum Beispiel nach Skandinavien haben“, sagt Schmidt. Die Betten in der Herberge würden ja immer wieder neu belegt.

So rechnet man unter der Hand damit, dass Borkum Durchlaufstation von mindestens 1.000 Flüchtlingen wird. Viel zu tun also für die BorkumerInnen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!