: „Ganz unten“ gegen „Ganz oben“
■ Heute beginnt der entscheidende Prozeß gegen den Wallraff–Bestseller „Ganz unten“ / Kläger ist der Thyssen–Konzern, der zehn Seiten des Buches gestrichen haben will / Ein Bericht von Jakob Sonnenschein
Vor dem Düsseldorfer Landgericht beginnt heute der, nach Einschätzung von Günter Wallraff, „wichtigste Prozeß“ gegen das Buch „Ganz unten“. Obsiegt der Stahlgigant Thyssen, so kommen auf Wallraff und den Verlag Kiepenheuer & Witsch unter Umständen millionenschwere Schadensersatzforderungen zu. Deutliche Wirkungen hat das Wallraff–Buch in der „Verleiher–Szene“ nach Auffasssung des Chefs des Landesarbeitsamtes, Olaf Sund, hinterlassen. Eine Beobachtung, die auf den Subunternehmer Vogel, Wallraffs ehemalien Chef, offenbar nicht zutrifft (siehe Dokumentation). Der Prozeß gegen Vogel beginnt ebenfalls heute - in Duisburg
Monatelang hat Thyssen abgewartet, abgestritten, geschwiegen. Dann erschienen großflächige Anzeigen, Sympathiewerbung in allen großen Zeitungen. Es half alles nichts. Der Erfolg von „Ganz unten“, dem dokumentarischen Thriller über Sklavenhändler, Leiharbeit und Ausländerhaß, war nicht aufzuhalten. Mit einer verkauften Auflage von mittlerweile 2,25 Millionen Exemplaren in der BRD und Übersetzungen in 18 Fremdsprachen, bricht das Buch alle Verkaufserfolge. Da die Ausbeutung hauptsächlich ausländischer Leiharbeiter durch den Stahlgiganten Thyssen im Mittelpunkt der Wallraffschen Recherchen steht, droht dem Konzern ein Imageverlust mit kaum abschätzbaren Folgewir kungen. Gut ein halbes Jahr nach Erscheinen des Buches zog Thyssen die Notbremse. Am 20. März dieses Jahres reichte der Konzern Klage ein. Was die eigene PR–Abteilung nicht schaffte, soll nun ein Gericht besorgen. Inzwischen haben allein die eingereichten Schriftsätze der Parteien einen Umfang von mehr als 200 DIN A4– Seiten erreicht. Bekäme der Vorstand der Thyssen Stahl AG Recht, so bliebe vom Thyssen–Kapitel im Buch „Ganz unten“ nicht viel übrig. Thyssen bestreitet fast alles. Keine Doppelschichten, keine Verstöße gegen Arbeitsschutzvorschriften, ja selbst den Tatbestand der Leiharbeit leugnet das Unternehmen. Kommt es vor der 12. Zivilkammer des Düsseldorfer Landgerichts zur Beweisaufnahme, dann werden eine Reihe von Zeugen, unter ihnen ehemalige Subunternehmer, die sich von Thyssen gelinkt fühlen, über die „Scheinverträge“ plaudern. Drohungen gegen Zeugen Dutzende von Zeugen sind darüber hinaus von Wallraffs Anwälten benannt worden, um die im Buch geschilderten Verstöße gegen Arbeitsschutzvorschriften zu bezeugen. Prozeßentscheidende Bedeutung kommt der Standfestigkeit der Zeugen zu. Eine Reihe von ihnen arbeiten inzwischen entweder bei Thyssen, oder bei von Thyssen abhägigen Firmen und haben angedeutet, daß es für sie nicht besonders angenehm wird, wenn sie bei ihren eidesstattlichen Versicherungen bleiben. Daß dies keine bloße Vermutung ist, zeigt das Beispiel des Zeugen Karl–Heinz Stoffels. In einer notariellen Erklärung des Zeugen heißt es „......bis zum Erscheinen des Wallraff–Buches haben wir weder von der Firma Thyssen, noch von der Firma Baumann Gaswarngeräte bekommen, wenn wir z.B. im Hochofenbereich arbeiten mußten, wo es zu plötzlichen Gasausbrüchen kommen kann. Dies änderte sich wenige Tage nach Erscheinen des Buches Ganz unten schlagartig. Von da an wurden uns vom Thyssen–Personal regelmäßig Gaswarngeräte zur Verfügung gestellt, die wir zum Arbeitsplatz mitnahmen, um uns vor Gefahren zu schützen.“ In der Zwischenzeit bekam der Zeuge Stoffels von den Anwälten seines derzeitigen Arbeitgebers, der von Thyssen abhängigen Firma Baumann einen Brief, in dem rechtliche Konsequenzen für den Fall angedroht werden, daß Stoffels sich „dem Denunzianten Wallraff“ als Zeuge zur Verfügung stellt. Stoffels hat wegen der Drohung Strafantrag gestellt. „Flucht“ nach Holland Günter Wallraff wird zum Düsseldorfer Prozeß aus Holland anreisen. Er hat seinen Hauptwohnsitz inzwischen in die Nähe von Amsterdam verlegt, um, so Wallraff zur taz, „die Arbeit ruhig und souverän fortsetzen zu können“. Spätestens nach der im Frühjahr erfolgten Hausdurchsuchung fühlt Wallraff sich in Köln nicht mehr sicher. Ein Münchner Gericht hatte die Durchsuchung verfügt, um „geheime Filmaufnahmen sicherzustellen“. Zwar wurden die Beamten nicht fündig, aber Wallraff fürchtete im Wiederholungsfall um seine Informanten und Quellen. Der Entschluß zum Wohnsitzwechsel hängt wohl auch mit den ständigen Auseinandersetzungen um den Wahrheitsgehalt seiner Enthüllung zusammen. Gewiß, in der Substanz ist das Buch unumstritten, aber einen Teil des Glaubwürdigkeitsverlustes hat sich Wallraff selbst zuzuschreiben. An mindestens zwei Stellen des Buches hat Wallraff aus anderen Veröffentlichungen geschöpft, ohne die Quellen jeweils zu nennen. Dieser „geistige Diebstahl“ war den publizistischen Helfern von „Ganz oben“ willkommener Anlaß, um von den tatsächlich skandalösen Verhältnissen abzulenken. Eine Rolle, die insbesondere die CSU–Seilschaft im bayerischen Rundfunk zu spielen wußte. Vorläufiger Höhepunkt ist ein dieser Tage erschienenes Anti– Wallraff–Buch des Vize–Chefs von „Report“–München, Klaus Mertes. Darin heißt es über Wallraff: „Mimik und Züge offenbaren Wallraffs Persönlichkeit - hinter allen idealistischen Stilisierungsbemühungen - als klein, verlogen, niedrig - als ganz unten“. In München, wo der Autor dieser Formulierung zuhause ist, wird auf Antrag des Subunternehmers Vogel(siehe nebenstehende Dokumentation) gegen Wallraff wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte - Vertraulichkeit von Wort und Bild– ermittelt. Im Frühjahr dürfte der Prozeß beginnen, der mit Sicherheit zur Verurteilung des Kölner Autors führen wird. Derjenige, den Wallraff im Film und Buch demaskiert hat, muß sich ebenfalls am heutigen Mittwoch im Gericht einfinden. Gegen Vogel und den Subunternehmer Remmert (an den Vogel „Ali“ ausgeliehen hatte) beginnt vor dem Duisburger Landgericht der Prozeß wegen illegaler Arbeitnehmerüberlassung, Steuerdelikten und Betruges. Währenddessen gehen die Geschäfte - bei Remmert unter anderem Namen - munter weiter. Wie sicher sich die Herren inzwischen schon wieder fühlen, geht aus dem dokumentierten Vogel–Brief hervor. Stiftungen und Projekte Sollte Wallraff den Prozeß gegen Thyssen verlieren, kämen möglicherweise Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe auf ihn und seinen Verlag zu. Dies würde wohl verschiedene Projekte, die Wallraff bislang aus seinen Honoraren finanziert, in Bedrängnis bringen. Dabei geht es in erster Linie um eine Stiftung, in die Wallraff 1,7 Millionen DM seines Honorars einbringt, um deutsch–ausländische Wohnprojekte in Duisburg zu fördern. Der Cap–Anamur Vorsitzende Rupert Neudeck wird zusammen mit Wallraff der Stiftung vorstehen. In den nächsten Wochen beginnt - in Zusammenarbeit mit der städtischen Wohnungsbaugesellschaft - ein Projekt in der Duisburger Flurstraße. Ein weiteres Wohnmodell, von einer Hannoveraner Architektengruppe im Auftrag von Wallraff geplant, mußte dagegen vorerst auf Eis gelegt werden. Die finanziellen Dimensionen dieses Projektes drohen dem Kölner Schriftsteller über den Kopf zu wachsen.
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