GETRENNTER UNTERRICHT: Die Chemie der Geschlechter
An einer Charlottenburger Schule werden Naturwissenschaften nach Geschlechtern getrennt unterrichtet. Es ging um bessere Förderung der Mädchen - jetzt dürfen die Jungen den Anschluss nicht verlieren.
Im Computerraum ist es ruhig. 14 Kinder sitzen vor den Rechnern, die entlang der vier Seitenwände stehen. Nur Jungen sind anwesend. Sie sollen eine Powerpoint-Präsentation über den Aufbau eines PC erstellen. Die Schüler arbeiten konzentriert, alle blicken in Richtung Wand, auf ihre Bildschirme. Nur manche unterhalten sie sich leise.
Eine Etage tiefer geht es im Chemieraum deutlich lauter zu. Ein freudiges "Hallöchen" schallt einem beim Eintreten aus der ersten Reihe entgegen. Hier, bei der weiblichen Hälfte der Klasse, tanzen die Elemente: Mit bunten Kügelchen und grauen Stäbchen sollen die 14 Schülerinnen Modelle von Molekülen basteln und anschließend an die Tafel zeichnen. An starre Ordnungen hält sich niemand - weder an die der Tischreihen noch an die der Atome. Die Schülerinnen laufen hin und her, vom Tisch zur Tafel. Sie lachen, reden miteinander und mit dem Lehrer und basteln, was Fantasie und Baukästen hergeben. Ein Hund und eine Krone sind die ersten Ergebnisse.
Schon seit 18 Jahren werden an der Evangelischen Schule Charlottenburg die AchtklässlerInnen nach Geschlechtern getrennt unterrichtet - vier Stunden pro Woche in Chemie und Informationstechnischer Grundbildung (ITG). "Mädchen und Jungen lernen unterschiedlich", sagt Henning Culemann, Konrektor der Realschule und Initiator des getrennten Unterrichts. So würden etwa in den Naturwissenschaften die Mädchen zunächst die Versuchsanleitung durchlesen und stärker im Team arbeiten. "Jungen fangen, jeder für sich, direkt an." Ursprünglich wurde das Konzept eingeführt, um Mädchen in naturwissenschaftlichen Fächern voranzubringen, da sie einen "anderen Förderbedarf benötigten", erklärt Culemann. Die Idee sei ihm schon vor mehr als 20 Jahren im Referendariat gekommen.
Aus der Idee ist ein spezielles Schulprofil entstanden, das Mädchen wie Jungen zugute kommen soll. "Gerade die Zeit Ende der achten, Anfang der neunten Klasse ist für die Schüler und Schülerinnen ein steiniger Weg", meint Culemann. Um den Kindern in dieser "schwierigsten Phase der Pubertät" zu helfen, habe man homogene Lerngruppen geschaffen - traditionellen Rollenmustern und -erwartungen werde dadurch entgegengewirkt: "Die Jungen müssen sich nicht mehr produzieren und die Mädchen müssen nicht mehr hübsch sein", fasst der Konrektor das Schulkonzept zusammen.
Im Chemie-Labor sind sie froh über die Trennung auf Zeit: "Man kann befreiter arbeiten und lernen", findet Kyra. Mit Jungen sei das so nicht möglich: "Die lachen, wenn man was falsch macht oder nicht aufgepasst hat", sagt die 14-Jährige. Unter Mädchen käme das zwar auch vor. "Aber Mädchen schämen sich, sich zu melden, wenn Jungen dabei sind."
"Man traut sich mehr unter Mädchen", bringt es Vanessa auf den Punkt. Die 13-Jährige zeichnet gerade ihr gebasteltes Modell an die Tafel und ersetzt die bunten Kügelchen durch Elementsymbole: Statt der zwei weißen und dem roten "Atom" schreibt sie zwei H und ein O an die Tafel. Vom Hund über die Krone haben sich die Mädchen spielerisch zum Modell des Wassermoleküls vorgearbeitet.
Auch oben im PC-Raum profitieren die Schüler von der Aufteilung: "Ich finde das sehr gut", sagt der 13-Jährige Beyar. "Man kommt öfter dran, versteht besser und hat auch mehr Platz." Der Lehrer habe einen besseren Überblick in den kleineren Gruppen und es sei ruhiger geworden. Das liege aber nicht allein an der Abwesenheit der Mädchen: "Jungen und Mädchen quatschen beide." Sein Mitschüler Daniel freut sich auch über die kleineren Klassen. Aber ruhiger sei es dadurch nicht, meint er - im Gegenteil: "Die Mädchen sorgen eher für Ruhe. Im Kunstunterricht funktioniert das sehr gut zusammen."
Nach der großen Pause werden die Klassenräume getauscht: Jetzt sitzen die Mädchen oben an den Computern, während die Jungen unten im Labor basteln. Doch nicht nur räumlich sind die Mädchen aufgestiegen. "Vor 18 Jahren war man der Ansicht, dass Mädchen ruhiger und langsamer arbeiten und den Jungen die technischen Aufgaben leichter fallen", erläutert ITG-Lehrer Stephan Glorius die Situation zu Beginn des Projekts. "Mittlerweile", stellt er fest, "haben die Mädchen nicht nur aufgeschlossen, sondern die Jungen sogar überflügelt." Das zeige sich etwa in der geringeren Anzahl der Schreibfehler in den PC-Präsentationen. "Die Mädchen sind deutlich ordentlicher und arbeiten konzentrierter."
Unten bei den Jungen ist von Unordnung oder mangelnder Konzentration jedoch nichts zu spüren. Die Schüler sitzen zu zweit an den Tischen und basteln ebenso ruhig an den Modellen, wie sie vorher am Computer ihre Präsentationen bearbeitet haben. Wo zuvor die Schülerinnen noch herumliefen und Kronen und Hunde bauten, fällt jetzt nur ein Schüler auf, der sich aus den Atomen eine Brille gebastelt hat und sie für den Rest der Stunde trägt. "Ich bin kein Freund des getrennten Unterrichts", sagt Chemie-Lehrer Ralph Hoier. "Es kommt auf die einzelnen Charaktere an."
Auch er hat seine Erfahrungen, was typisch für Mädchen oder Jungen ist. "Die Mädchen haben mehr Fantasie und gehen spielerischer an die Aufgaben." Die Jungen seien dagegen zielorientierter. Leistungsmäßig gebe es aber keine Unterschiede. "Gibt es das hier?", fragt ihn einer und streckt ihm ein Gebilde entgegen. "Nein", antwortet Hoier, "aber bau ruhig ein bisschen mehr Fantasie mit ein." Anstelle der strikten Geschlechtertrennung wäre es Hoier lieber, einzelne Kinder individuell zwischen den Klassen auszutauschen. "Manche verhalten sich ganz anders in getrennten als in gemischten Klassen."
Typisch Junge, typisch Mädchen - in rund 20 Jahren hat sich viel verändert. Das Konzept, Mädchen unabhängig von den Jungen in Naturwissenschaften zu fördern, sei zwar aufgegangen, meint Henning Culemann. Es habe aber auch gezeigt, dass mittlerweile die andere Hälfte der Schülerschaft eklatante Nachteile habe, etwa Leseschwächen und Mängel beim kooperativen Arbeiten. "Die Mädchen haben im Schnitt bessere Noten", sagt Culemann. "Die meisten Schulversager und verhaltensauffälligen Schüler sind Jungen."
Daher sei es nun an der Zeit, die Jungen ebenfalls besonders zu fördern "Man kann nicht die halbe Schülerschaft links liegen lassen." Beginnen müsse das aber schon in den Grundschulen und Kitas, "nicht erst in der Pubertät", fordert Culemann. Durch die steigende Anzahl alleinerziehender Mütter und die mehrheitlich weiblichen Lehrkräfte im Grundschulbereich fehle es den Jungen dieser Altersgruppe häufig schlicht an männlichen Vorbildern. Wie man dieses Problem beheben könnte? Auch dazu hat Henning Culemann schon eine Idee: "mit einer Männerquote für die Grundschule".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?