GERHARD DILGER POLITIK VON UNTEN : Vom Süden lernen
SOZIALE BEWEGUNGEN SIND AM ERFOLGREICHSTEN, WENN REGIERUNGEN SIE NICHT VEREINNAHMEN
Der taz-Kongress am vergangenen Wochenende war aufregend. Mehr als einmal fühlte ich mich an das mühsam gezähmte Chaos auf den Weltsozialforen in Brasilien oder Indien erinnert: bei dem riesigen Andrang; bei der Wahl zwischen interessanten Veranstaltungen; bei überraschenden Begegnungen mit alten und neuen Bekannten. Vor allem aber bei der inhaltlichen Stoßrichtung: Eine bessere Welt ist nötig und möglich! Tu was!
Kaum zu glauben, aber wahr: Mit den immer spürbarer werdenden Folgen der Krise rückt das Ende der bleiernen neoliberalen Ära näher, die Demontage staatlicher und öffentlicher Strukturen. Politiker reagieren auf die Unzufriedenheit von unten und ändern zunächst einmal ihren Diskurs. Doch wie viel Zukunftsweisendes sich hinter Obamas „Green New Deal“ oder der Sozialrhetorik der Steinmeier-SPD tatsächlich verbirgt, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Im mittlerweile rosarot eingefärbten Lateinamerika finden die vielversprechendsten Entwicklungen in jenen Ländern statt, wo sich Bewegungen von unten und die dortigen Pendants zum taz-Milieu zusammentun: in Bolivien etwa, wo Präsident Evo Morales mit Teilen der progressiven Mittelschicht und in enger Abstimmung mit seiner Basis regiert. Oder in Ecuadors „Bürgerrevolution“, wo sich Umweltgruppen und Indígenas erfolgreich gegen den Linkskatholiken Rafael Correa zur Wehr setzen. Nicht zufällig sind beide Andenstaaten Vorreiter eines demokratischen Ökosozialismus. Auch der Weltsozialforumsprozess ist dort am produktivsten, wo sich die AktivistInnen nicht von Regierungen vereinnahmen lassen.
Auf den Norden übertragen, bedeutet dies: Die Fixierung auf rot-rot-grüne Planspiele oder einen Messias Obama führt in die Irre, Veränderungen gibt es nur durch Druck von unten. Es gilt, an möglichst vielen Stellen die Risse im neoliberalen Machtgefüge zu erweitern. Etwa so, wie es beim taz-Kongress mit subversivem Charme demonstriert wurde: Bei der „Gala der politischen Akteure“ erklärte das Publikum alle elf Basisgruppen zu Siegern – und damit den Dreiklang soziale Gerechtigkeit, Ökologie und Partizipation. Der ist auch dieses Wochenende Programm, auf dem McPlanet-Kongress von Attac und anderen in Berlin.
■ Der Autor ist Lateinamerika- Korrespondent der taz
Foto: Gerhild Schiller