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GEN NORDEN – GEN WESTEN„Wir waren lange genug eingeschlossen“

■ Der ehemalige Außenminister der UdSSR, Eduard Schewardnadse, erwartet nach der Aufhebung der Reisebeschränkungen keine Massenemigration in den Westen. Daß viele junge Sowjetbürger in den Westen wollen, hält er für „absolut normal“: Sie sollen die Erfahrung und Wissen sammeln – um damit zurückzukehren. Der Chefredakteur der 'Moscow News', Igor Jakowlew, interviewte EDUARD SCHEWARDNADSE

Frage: Herr Schewardnadse, wird das Thema der Ost-West- Migration die künftigen Beziehungen zwischen den beiden Teilen Europas beherrschen? Meinen Sie, daß es in den nächsten zehn Jahren zu einer massenhaften Emigration kommt?

Eduard Schewardnadse: Ich glaube, man sollte diese Frage anders formulieren: Wird es der UdSSR und den Ländern Osteuropas gelingen, ihre internen Probleme zu lösen? Die ganze weitere Entwicklung hängt von der Antwort auf diese Frage ab. Wenn der Gang der Ereignisse in der Sowjetunion sich stabilisiert, wird man es vermeiden können, daß ein übermäßiger Strom von uns nach Europa geht. Zur Zeit spricht man von einer Zahl von neun Millionen Sowjetbürgern, die möglicherweise emigrieren würden. Ich persönlich glaube nicht an diese Zahl. Es könnte eine Million oder anderthalb Millionen von Ausreisen geben, vielleicht weniger, aber ich glaube nicht, daß es zu einem Massenexodus kommt. Natürlich unter der Voraussetzung, daß es uns gelingt, die politische und wirtschaftliche Lage des Landes zumindest teilweise zu stabilisieren.

Deswegen glaube ich nicht, daß die Migration in den kommenden Monaten und Jahren ein dominierendes Problem sein wird. Es wird alles davon abhängen, wie wir die Ideen und die Vereinbarungen weiterentwickeln, zu denen wir während der Pariser Konferenz gekommen sind. Ich meine die Schaffung eines europäischen Raumes auf ökonomischem, legislativem und ökologischem Gebiet. Wie können wir die beschlossenen Kooperationsverträge verwirklichen, wie das europäische Energieprogramm, das gerade ausgearbeitet wird? Ich meine, daß diese globalen Probleme dominierend sein werden. Ganz zu schweigen von der Abrüstung, dem Streben nach einer Verringerung der Waffen, der Streitkräfte und der Militärausgaben. Ich glaube, daß diese Probleme innerhalb der Ost-West-Beziehungen am wichtigsten sind. Jedenfalls bis zum Ende dieses Jahrhunderts.

Welche Länder werden nach Ihrer Meinung in den kommenden Jahren die großen Emigrationsländer sein, und welche werden die größte Zahl von Emigranten aufnehmen?

Es ist schwer zu sagen, welche Länder die meisten Emigranten aufnehmen werden. Ich glaube, heute haben alle Angst vor einer neuen Welle von „großen Invasionen“, und niemand hat gern Massenmigrationen. Ich habe vor kurzem eine griechische Delegation empfangen. Griechenland hat während der letzten Jahre mehr als 200.000 Menschen aufgenommen. Eine solche Immigration stellt das Land vor gewaltige Probleme. Ich kenne die Situation in Deutschland: das schwierigste Problem für sie ist der Ostteil des Landes. Es müssen neue Arbeitsplätze geschaffen, die sozialen Probleme gelöst werden, und so weiter ... Sie sind nicht in der Lage, eine große Anzahl von Emigranten aufzunehmen, und deshalb herrscht dort Unruhe.

Welches sind nach ihrer Meinung die Länder, die billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellen werden?

Es wird alles von der Lage im Inneren abhängen. Wenn wir unsere Probleme im Lauf der nächsten zwei oder drei Jahre lösen, wenn es uns gelingt, die Situation zu normalisieren, wird es keine riesigen Ströme geben, die die Sowjetunion verlassen. Das gilt auch für Polen: Wenn die Marktwirtschaft Fuß faßt – und sie haben in diesem Bereich schon gute Resultate erzielt –, dann meine ich, daß die Migrationsströme abnehmen werden. Ungarn ist dabei, sich neu zu organisieren, und auch in Rumänien gibt es Erneuerungsprozesse. Es hängt viel davon ab, wie sich die Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und diesen Ländern entwickelt, etwa in Fragen der Energieversorgung, der Versorgung mit natürlichen Ressourcen, auf allen Gebieten, in denen wir durch Wirtschaftsabkommen verbunden sind. Wenn wir diese Projekte verwirklichen, wird es in diesen Ländern keine massive Auswanderung geben. Ich finde, man sollte die Lage nicht dramatisieren. Ich glaube, daß wir unsere Ziele erreichen können, auch wenn es bis jetzt nur wenige ermutigende Zeichen gibt.

Finden Sie es richtig, in der UdSSR die absolute Reisefreiheit einzuführen, oder meinen Sie, daß die Staaten Ausreise wie Einreise begrenzensoll?

Ich glaube, daß man in diesem Stadium, wenn man die gegenwärtige Situation in ihrer Zweideutigkeit und Komplexität in Rechnung stellt, keine Begrenzungen einführen sollte. Wir müssen das Gesetz über die freie Ein- und Ausreise in die UdSSR so schnell wie möglich annehmen. Wenn sich trotz allem zeigt, daß dieses Gesetz negative Folgen hat, dann müssen wir im europäischen Rahmen nach Lösungen suchen. Wenn die Migration zu einem destabilisierenden Faktor wird, zu einem Faktor, der die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und die Verwirklichung der Pariser Abkommen verhindert, dann müssen alle betroffenen Staaten sich beraten, um eine gemeinsame Lösung zu finden.

Bedeutet das, daß dieses Problem nicht nur eine nationale, sondern auch eine europäische Dimension hat?

Selbstverständlich. Vielleicht hat es sogar eine umfassendere Dimension. Wir haben ein Zentrum für europäische Sicherheit, für Konfliktverhütung und so weiter eingerichtet. Vielleicht sollte man daneben auch eine Organisation schaffen, die sich mit diesen Problemen befaßt, die Lösungen vorschlägt, über die dann die Außenminister, die Regierungschefs oder sogar die Staatschefs beraten.

Befürchten Sie einen neuen Eisernen Vorhang, diesmal aber durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft oder die westlichen Länder errichtet?

Nein, das halte ich prinzipiell nicht für möglich. Warum hätten wir dann die Pariser Abkommen vorbereitet, warum hätten wir die zu trauriger Berühmtheit gekommene Berliner Mauer abgerissen? Der Kalte Krieg ist vorbei, es beginnt eine neue Ära, ein neues Europa; und jetzt von einem Eisernen Vorhang zu sprechen ... Das halte ich nicht für möglich. Ich bin vielleicht zu optimistisch, aber das halte ich nicht für möglich.

Werden die Emigranten von morgen qualifizierte oder nichtqualifizierte Arbeitskräfte sein?

Wenn es zu einer Massenemigration kommt, ist es möglich, daß sie vor allem nichtqualifizierte Arbeitskräfte betrifft. Qualifizierte Arbeitskräfte finden immer ihren Platz in der Gesellschaft: entweder in den großen Staatsunternehmen, die ihnen ein gutes Einkommen und eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen sichern, oder in Kooperativen, gemischten Unternehmen oder anderen nichtstaatlichen Organisationen. Jeder braucht qualifizierte Arbeitskräfte, sie werden trotz der gegenwärtigen Schwierigkeiten – der Lebensmittelknappheit und so weiter – gut bezahlt, sie leben besser als die anderen. Die Emigration lockt übrigens die jungen, qualifizierten Arbeitskräfte am meisten, die auf der Suche nach einem besseren Lebensniveau sind.

Es wird manchmal vermutet, daß die Emigranten aus dem Süden durch Emigranten aus Osteuropa ersetzt werden. Halten Sie das für möglich?

Ich sage noch einmal, es wird alles von der Stabilisierung der Wirtschaft abhängen, von der Einführung der Marktwirtschaft in den Ländern Osteuropas. Wenn dieser Prozeß sich beschleunigt, dann glaube ich nicht, daß die Emigration aus Osteuropa zu einem destabilisierenden Faktor werden kann.

Die Arbeiter aus den osteuropäischen Ländern könnten sich aber trotzdem als billiger erweisen als die aus dem Süden.

Ich hoffe, daß die Länder im Osten sich schneller als wir reorganisieren und neu orientieren, weil Europa, die Vereinigten Staaten von Amerika und die anderen Länder ein Interesse daran haben, ihnen bei der Neuordnung ihrer Wirtschaft zu helfen. Und ich meine, daß das dazu beitragen wird, eine Massenemigration zu verhindern.

Stellt die Emigration eine Gefahr für Osteuropa und die UdSSR dar?

Eine Massenemigration ist natürlich nicht angenehm. Was die Sowjetunion betrifft, so muß man schon jetzt nach Maßnahmen gegen die Krise und gegen die Emigration suchen, um sie zu verhindern. Aber diese Maßnahmen dürfen nicht mit Zwang verbunden sein, weil die Menschen dadurch erst recht zur Ausreise gebracht würden. Alle Welt beklagt heutzutage den „brain drain“, den Weggang von jungen Talenten. Es soll die Gefahr bestehen, daß das Land keine Maler, keine Schauspieler und so weiter mehr hat.

Ich sage es Ihnen ganz offen: Das sind Hirngespinste von Provinzlern. Denn selbst wenn es Abwanderungen in großem Ausmaß gibt, dann halte ich das für einen positiven Faktor: Die Menschen sollen reisen, sie sollen die Erfahrung und das Wissen von anderen kennenlernen. Wir waren lange genug eingeschlossen, wir haben in einer geschlossenen Gesellschaft gelebt. Ist es denn grundsätzlich schlecht, wenn ein junger Mann, zum Beispiel ein Student der Universität Moskau oder ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, der die ganze Zeit in seinem Laboratorium steckt und schließlich nichts mehr sieht, ist es schlecht, wenn er sieht, was in Pariser Laboratorien oder amerikanischen Forschungszentren geschieht? Und auf dem Gebiet der Kunst wollen viele das Land nicht endgültig verlassen, sondern nur für zwei oder drei Jahre ins Ausland gehen, um dort zu studieren. Das finde ich absolut normal.

Und das wird für die Sowjetunion eine Bereicherung sein?

Ganz bestimmt. Die meisten werden auf jeden Fall zurückkommen. Zehn bis fünfzehn Prozent werden im Westen bleiben, aber wenn die Hälfte zurückkommt, dann sind das schon Männer mit ganz anderen Fähigkeiten, sie diskutieren auf einer anderen Ebene, sie haben eine andere Berufsausbildung. Dadurch wird das intellektuelle Potential des Landes bereichert.

Eine letzte Frage: Wer profitiert mehr von der Emigration, das Land, aus dem die Leute weggehen oder das, in dem sie ankommen?

Ich glaube, dabei gewinnt niemand. Die beste Lösung ist, wenn der Prozeß sich normalisiert, wenn er im Rahmen von Europa, den Vereinigten Staaten von Amerika und so weiter kontrollierbar ist ... Austausch ist eine normale Sache. Aber nur, wenn er nicht einseitig ist.

Eduard Schewardnadse wurde 1985 unter Gorbatschow Außenminister der UdSSR. Nach politischen Differenzen insbesondere mit den Militärs über die „zu zaghafte“ Perestroika, trat er Ende 1990 zurück.

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