GASTKOMMENTAR: Staat ohne Staatsvolk
■ Jugoslawien — oder die späten Folgen einer vergessenen Hegemonie
In Jugoslawien versuchen die Reste einer serbisch dominierten Zentralgewalt im Verein mit Teilen der Armee, gewaltsam die Dismembration und damit den Untergang des Staates gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen, insbesondere der Kroaten und Slowenen, der Albaner, Bosnier und Makedonen, zu verhindern. Mancher meint, es ginge um das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das von einer zaudernden Weltpolitik serbischer Hegemonie geopfert wird.
Erinnern wir uns: Jugoslawien ist selbst ein Kind jener Doktrin, die von Präsident Wilson gegen Ende des Ersten Weltkrieges als Grundlage für die staatliche Neugliederung Ostmitteleuropas postuliert wurde. Polen, die Tschechoslowakei und Jugoslawien verdanken ihre Entstehung ebenso wie Großrumänien angeblich dieser Doktrin. In einigen Fällen, wie in Oberschlesien und im Burgenland, wurde der genaue Grenzverlauf nach Volksabstimmung festgelegt. Die Staatszugehörigkeit eines Gebietes sollte dem Mehrheitswillen der Bevölkerung entsprechen. Grenzkriege wurden zum Teil erbittert geführt.
Das Ergebnis kann kaum als die Verwirklichung einer Selbstbestimmung von Völkern bezeichnet werden. In Polen und Rumänien dominierten die jeweiligen „Staatsvölker“ Minderheiten, die immerhin etwa 30 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten; die Slowaken fühlten sich von den Tschechen beherrscht, obwohl sie als „staatstragendes“ Volk im Namen dieser Republik genannt waren.
Mit Jugoslawien entstand ein „Vielvölkerstaat“ als Staat ohne Staatsvolk, will man nicht die Serben deshalb als Staatsvolk bezeichnen, weil ihre hegemonialen Interessen die Identifikation mit dem neuen Kunstgebilde bewirkte.
Ein jugoslawisches Volk hat es nie gegeben, wohl aber die Hinterlassenschaft einerseits einer österreichisch-ungarischen wie andererseits einer türkischen Unterdrückung. Aber auch Vielvölkerstaaten können ein Staatsvolk hervorbringen. Hegemonien stehen allerdings solchen Entwicklungen entgegen. Die serbische Hegemonie hat die Entstehung eines Staatsvolkes verhindert und damit zugleich die Loslösungsbestrebungen der nichtserbischen „Minderheiten“ bewirkt und befördert. Allerdings wird die Auflösung Jugoslawiens nicht die Lösung der vielfältigen Minderheitenprobleme bewirken, wohl aber die Entstehung eines neuen Minderheitenproblems, das Problem der Serben in den nichtserbischen Gebieten. Das ist so ziemlich alles. Und das ist alles andere als eine „Selbstbestimmung der Völker“. Dr. Axel Azzola
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