GASTKOMMENTAR: Menetekel Hoyerswerda
■ Die Wiederkehr des „häßlichen Deutschen“
Jeder dritte Bundesbürger zeigt Verständnis für das Handeln der Neonazis. Noch nie in der Nachkriegsgeschichte waren neonazistische Organisationen in Deutschland so erfolgreich wie in diesen Tagen. In den neuen Bundesländern hat der alltägliche Terror den Rahmen spontaner, „jugendlicher“ Randale längst gesprengt. Der Neonazismus entwickelte sich in der DDR in kürzester Zeit von einem Randphänomen „durchgeknallter Jungrambos“ zu einem hochmobilen, neofaschistischen Netzwerk, das die Republik von Schwerin bis nach Görlitz durchzieht.
Was sich im Moment in den Straßen Hoyerswerdas, Magdeburgs, Schwedts, Eberswaldes und Dresdens abspielt, ist Prä-Faschismus, der aus der Tiefe des gesellschaftlichen Kerns kommt — organisiert, geplant und wohlüberlegt. Die marodierenden rechten Schläger und Mörder verfolgen die Politik der SA-Truppen der zwanziger Jahre — getragen von einer Woge der Sympathie und des Applauses barbarisierter, zur Demokratie unfähiger Kleinbürger.
Ost-Bürgermeister und Unternehmer stellen — so geschehen in der Nähe Hoyerswerdas — Naziskins als Ordnungstruppen für Naherholungsgebiete ein. „Überlastete Polizisten“ kooperieren in Dresden mit Nazi-Jungvolk gegen Flüchtlinge aus Osteuropa. Stinknormale, brave Bürger Leipzigs applaudieren, wenn rechte Schlägertrupps Hütchenspieler mit Eisenstangen vom Sachsenplatz prügeln. Und Kommunalpolitiker der „DDR“ sind davon überzeugt, daß die „extremistischen Kräfte“ und „Randalierer“ sich beruhigen, wenn die Ausländer aus ihren Städten verschwunden sind. Diese gesellschaftliche Akzeptanz der „Sturmtruppen für Doitschland“ sind die eigentliche Brisanz.
Weder gibt es einen nennenswerten Widerstand gegen die „rechte Bewegung“, noch eine zahlenmäßig relevante „Linke“ und demokratische Kultur, die einen Gegenpol zur Attraktivität der „Rechten“ darstellen. Es fehlt ein demokratisch- liberales Bürgertum, das den „Nazi-Terror“ öffentlich anprangert. Die Entwicklung der letzten Monate zeigt: Die Bevölkerung der fünf neuen Bundesländer ist in weiten Teilen weder reif zur Demokratie noch reif für „Europa 92“.
Wenn Polizisten aus unmittelbarer Nähe tatenlos zuschauen, wie ein Afrikaner von einem Mob zu Tode geprügelt wird, und ihre Passivität mit dem Verweis auf die Höhe ihres Gehaltes und die Nichtanrechnung ihrer Dienstjahre entschuldigen, sollte der Polizeiapparat getrost auf diese Menschen verzichten. Die Politik der Bundesrepublik Deutschland hat seit dem Fall der Mauer versäumt, die Entwicklung zum Rechtsextremismus als Problem wahrzunehmen und zu erkennen. Politische Konzepte gibt es nicht.
„Wirtschaftlicher Aufschwung“, „Verbesserung der Lebensverhältnisse im Osten“, und ein „größeres Lehrstellenangebot“. Die von Unionspolitikern und Sozialdemokraten genannten Lösungsvorschläge sind eine Kapitulation vor der Herausforderung. Es ist die Aufforderung, so weiterzumachen wie bisher. Natürlich hat die Anfälligkeit für Rechtsextremismus und Rassismus etwas mit sozialer Verunsicherung zu tun. Als Erklärungsmodell taugt es allerdings nur bedingt.
Die Ökonomisten bleiben bei ihrem Konzept Demokratisierung durch materielle Korrumpierung die Antwort auf die Frage schuldig, wie hoch der Lebensstandard, das Pro-Kopf-Einkommen sein muß, um das Abgleiten in den gesellschaftsfähigen Neofaschismus zu stoppen. Es sind übrigens die gleichen Politiker, die mit der Diskussion um die Asylrechtsänderung die geistigen Molotow-Cocktails herstellen, die an anderer Stelle dann wirklich zünden.
Was im Moment vonnöten ist, sind Autokonvois von deutschen, türkischen, rumänischen, jugoslawischen, angolanischen Demokraten durch die Städte der „DDR“ mit der erzieherischen Losung „Wir sind das Volk“. Bedingungslose Ächtung neonazistischer Organisationen und Aktivitäten und, bei aller Problematik, ein Verbot sämtlicher Vereinigungen, die zu Rassenhaß, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt gegen soziale und ethnische Minderheiten aufrufen, wären nächste Schritte. Augenblicklich erscheint das der einzige Weg, um zu verhindern, daß diese Organisationen zur attraktivsten „Jugendbewegung“ im neuen Deutschland werden. Den Rest kann Sozialpädagogik und wirtschaftlicher Aufschwung erledigen. Der „Verlust der humanen Orientierung“, wie es Ralph Giordano nannte, erobert die Tagespolitik. Deutschland knüpft an eine Ideologie des völkischen Rassismus an, der tief in der Geschichte wurzelt. Eines Rassismus, der die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands seit der Gründung des Reiches 1871 entscheidend mitbestimmt. Deutschland wird von seiner unbewältigten Geschichte eingeholt.
Und auch im Westen wird sich sehr schnell zeigen, wie dünn das demokratische Firnis des politischen Lebens ist, das den gesellschaftlichen Diskurs nach 1968 dominierte. Eine politische Kultur wird sich ausweiten und etablieren, die sich bei den Wahlerfolgen der „Republikaner“ in den Jahren 1989 und 1990 bereits in ersten Umrissen ankündigte. Bundesländer wie Bremen und Bayern orientieren sich in ihrer Asylpolitik bereits an sächsischem Vorbild — flankiert von Kampagnen, wie sie derzeit 'Bild‘ in Berlin unter dem Motto „Asylanten? Wer soll das bezahlen?“ praktiziert. Auch im Westen der Republik gibt es Millionen von Claqueuren, wenn wieder ein Flüchtlingswohnheim in Flammen aufgeht. Nur ein Jahr nach vollzogener Wiedervereinigung werden die Ängste der Nachbarländer vor der Wiedergeburt des „häßlichen Deutschen“ Realität. Eberhard Seidel-Pielen
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