GASTKOMMENTAR: Hexenjagd
■ Zum Zerfall der politischen Kultur nach Hoyerswerda
Vielleicht wird man eines Tages die Geschichte des vereinten Deutschlands in die Zeit vor und nach Hoyerswerda einteilen. Schon jetzt ist sicher, daß unsere politische Kultur Schaden genommen hat. Nach den tagelangen gewaltsamen Ausschreitungen von Rechtsradikalen, dem Rückzug der Staatsgewalt und der Entscheidung, Asylbewerberheime künftig einzuzäunen, kam es im Abgeordnetenhaus zu einem weiteren Vorfall, der auf einen rapiden Verfall der politischen Kultur in unserem Land hinweist. Zunächst wollte der Abgeordnete Wieland vom Bündnis 90/Grüne einen »Hauch von Kristallnacht in Hoyerswerda« wahrnehmen. Dieser Vergleich ist völlig unzulässig. Damit werden die Vorgänge während der Novemberpogrome des Jahres 1938 trivialisiert und gegenwärtige politische Erscheinungen dämonisiert.
Doch das war leider nur der Anfang. Der CDU-Abgeordnete Wruck wandte sich mit folgenden Worten an die Fraktion von Bündnis 90/Grüne: »Aber solche Vergleiche können Sie nur bringen, wenn Sie selbst die Brut von NS-Verbrechern als Abgeordnete in ihren Reihen geduldet haben.« Mit der »Brut von NS-Verbrechern« war ganz offensichtlich Hilde Schramm gemeint, die in der letzten Legislaturperiode als Abgeordnete der AL im Parlament saß. Sie hat sich als engagierte Pädagogin und Politikerin über Berlin hinaus einen Namen gemacht. 'Der Spiegel‘ nahm dies zum Anlaß, um scheinbar beiläufig darauf hinzuweisen, daß Hilde Schramm Tochter von Hitlers Rüstungsminister Albert Speer ist.
Das war perfide. Wrucks Formulierung von der »Brut von NS- Verbrechern« ist es noch mehr. Das ist Hexenjagd, gegen die sich niemand wehren kann. Wir Nachgeborenen konnten uns weder unsere Eltern, noch unser Land, das Land der Täter, aussuchen. Wir können die Geschichte nicht ungeschehen machen, wir können aber aus ihr lernen. Lernen, daß, wie es Burkhard Hirsch im Bundestag sagte, »Pogrome im Kopf beginnen«; lernen, daß der Untergang einer Demokratie mit dem Zerfall der politischen Kultur beginnt. Wruck, der sich bis jetzt nicht entschuldigt hat, scheint nicht lernfähig zu sein. Er sollte gehen. Der Zerfall der politischen Kultur muß aufgehalten werden. Wolfgang Wippermann
Siehe auch Seite 1 und 33 unten.
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