Fußballer Andrés Iniesta: Der Engel schwebt
Der FC Barcelona sorgt noch immer für magische Momente. Doch es sind nicht nur die Superstars, die zauberhaft spielen - Mittelfeldspieler Andrés Iniesta ist ein Magier.
Er trägt den roten Trainingspullover in der Größe Medium. So ist er ihm zu groß. Die Ärmel hängen ihm bis über die Hände. Als das Vormittagstraining des FC Barcelona beginnt, krallt Andrés Iniesta die Finger in die Pulloverärmel. Als ob er sich irgendwo festhalten müsste. Als ob er sich im eigenen Pullover verstecken wollte.
Andrés Iniesta, 22 Jahre alt, 1,69 Meter groß, macht es den Fans am Trainingsplatz leicht, ihn in der Masse der Mitspieler zu übersehen. Statt den Gesten einer Berühmtheit sendet er nur die Schüchternheit eines Jungen aus. Doch gerade seine Staruntauglichkeit macht ihn berühmt. Hunderte Experten preisen ihn als ihren persönlichen Geheimtipp, einen Mittelfeldspieler, der einfach alles kann. Dabei ist er zum offensten Geheimnis des Spitzenfußballs geworden. "Alle meine Freunde fragen mich nach Ronaldinho", sagt Barças isländischer Stürmer Eidur Gudjohnsen. "Wie er ist, was er macht, ob er mit mir redet. Und ich erzähle ihnen von Iniesta."
Diese Saison begann mit der großen Frage, wer in der von Stars überbuchten Offensive des Champions-League-Siegers 2006 die drei Sturmplätze besetzen dürfe, Ronaldinho, Samuel Etoo, Leo Messi, Thierry Henry, Gudjohnsen oder gar die Sternchen Giovani dos Santos und Bojan Krkic? Und die Angriffsoffenbarung in den ersten Wochen dieser Saison war dann, zum ungezählten Male neu entdeckt, der gelernte Mittelfeldspieler Iniesta als Linksaußen. Etoo ist schwer verletzt, Henry sucht und findet bloß langsam die Form, Ronaldinho schnauft und kehrt nach zehntägigem Extratraining erst im Gastspiel am heutigen Dienstag in der Champions-League-Vorrunde beim VfB Stuttgart (20.45 Uhr Premiere) zurück, Gudjohnsen und die Sternchen funkeln nur ersatzweise. Es fliegen Iniesta und Messi bei der Wiederkehr des unwiderstehlichen Barça von 2005/06. Wie die beiden vergangenen Mittwoch beim 4:1 gegen Saragossa - einem von zuletzt vier Siegen in Serie - rannten, tricksten und die Zuschauer verführten, ließ nur eine Frage zurück: Wie soll Fußball noch besser sein?
Er ist die Erinnerung, dass dieses Barça immer viel mehr war, und ist als die persönliche Magie Ronaldinhos oder Messis. Iniesta steht für die Gemeinschaftswerte der Elf, das blitzende Passspiel, die exquisite Ballsicherheit, die taktische Kontrolle. Er kann den Rhythmus einer Partie nicht so diktieren wie sein Mitspieler Deco, ihm kommt die Inspiration des tödlichen Steilpasses nicht so leicht wie seinem Kollegen Xavi Hernández, aber welcher Fußballer hat so viele Qualitäten wie er? "Der Bonbonverteiler", taufte ihn sein Trainer Frank Rijkaard wegen seiner zuckersüßen Pässe.
Er ist der Liebling der Fußballszene, seit er 11 war. Damals holte Barça ihn aus den Weiten der Mancha, der dürren Heimat Don Quijotes, ins 700 Kilometer entfernte Barcelona; einen 11-Jährigen. Er wurde eine 4. Die Trikotnummer gehört bei Barça dem defensiven Mittelfeldspieler - vor allem aber steht sie mehr als jede andere Position für Barças Stil. Hier ist der defensive Mittelfeldspieler kein Zerstörer, sondern ein technisch brillanter Spieleröffner. "Schau dir mal diesen Iniesta im Jugendteam an", sagte Pep Gurdiola, Barças Kapitän in den Neunzigern, damals zum jungen Xavi Hernández: "Xavi, du wirst mich in die Rente schicken. Und Iniesta wird uns alle in den Ruhestand schicken." Als ihm Xavi das einmal erzählte, lachte Iniesta. "Und Du, Xavi, hast Angst bekommen, was?" Sie spielen längst zusammen.
Doch zwei von Iniestas Stärken - seine Vielseitigkeit sowie seine Fähigkeit, sich sofort im hitzigsten Spiel zurechtzufinden - bleiben seine Schwäche: Er ist der ideale zwölfte Mann, der immer dorthin geschoben wird, wo etwas zu reparieren ist. Er spielt defensives oder offensives Mittelfeld, Außenverteidiger, und wenn nun in Stuttgart Ronaldinho zurückkehrt, wird er wohl den Sturmplatz wiederhergeben müssen. Aber er wird spielen, und wenn er nur eingewechselt wird. Iniesta spielt immer. Obwohl zu Spielbeginn nicht selten Ersatz, machte er vergangene Saison als Einziger in ganz Spanien in jeder Partie seiner Elf mit, samt Nationalmannschaftsdienst kam er auf 65 Einsätze.
Ein Spiel ändert selten die Welt, aber etwas änderte sich in jener Mainacht 2006 in Paris, als Barça im Champions-League-Finale zur Halbzeit 0:1 gegen Arsenal zurücklag und wieder einmal Iniesta eingewechselt wurde. Sie gewannen 2:1. Seitdem ist er "der glücklichste Fußballer der Welt". Er hat eine in der Sonne Spaniens rare Hautfarbe. Iniestas Gesicht ist schneeweiß wie das der Engel auf mittelalterlichen Kirchengemälden. Und so schwebt er über den Trainingsplatz, die schwierigste Ballkontrolle, die kompliziertes Drehung lässt er einfach aussehen.
Andrés Iniesta krempelt die zu langen Ärmel seines zu großen Trainingspullovers bis über die Ellenbogen hoch. Für einen Moment wirkt er wie ein entschlossener Kämpfer; ein Held der Massen. Dann, schon beim nächsten Torschuss, rutschen ihm die Ärmel wieder herunter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett