: Fußball und Eigensinn
Einfühlsam am Ball, aber zuviel Feuilleton-Nostalgie: Helmut Böttigers Fußballkulturbuch „Kein Mann, kein Schuß, kein Tor“ ■ Von Christoph Biermann
Da haben wir den Salat. Alles hat ein Ende und der Fußball auch. „Kein Mann, kein Schuß, kein Tor“ droht uns Helmut Böttiger bereits via Buchtitel. Die Krise ist final: „Der Fußball hat seine Identität preisgegeben.“ Den Untergang des Abendlandes markiert „Das Drama des deutschen Fußballs“ (Buch-Untertitel) zwar nicht ganz – aber fast. „Das Spiel ist an sein Ende gekommen. Zu groß, zu gewichtig, zu unbeweglich ist es geworden, zu eingefahren die Routine des Abendlandes.“
Schweres Geschütz fährt Helmut Böttiger auf, aber woher nimmt der Kulturredakteur der Frankfurter Rundschau seinen bleischweren Pessimismus? Wo doch die Fußballbranche unbeeindruckt boomt, an den Stadionkassen Besucherrekorde registriert werden und Fußball einer der letzten zuverlässigen Lieferanten von üppigen Einschaltquoten für das Fernsehen ist. Auf solche profanen Erfolgsmeldungen will Böttiger nicht hereinfallen. Er will dem „Phänomen Fußball wie jedem anderen kulturellen Phänomen“ gegenübertreten, „Fußball als Kunst“ betrachten und die Lücke der nie geschriebenen Ästhetik des Spiels füllen.
Warum er es dann aber nicht wirklich tut, das hat mit den Fesseln zu tun, die er sich selbst anlegt. „Daß man unter Kanzler Kohl keine Lust mehr auf Fußball hat, ist einleuchtend“, schreibt Helmut Böttiger mit Blick auf die Fußball- Politik-Analogien von Norbert Seitz („Bananenrepublik und Gurkentruppe“). Das klingt gut, ist aber falsch. Böttiger unterschätzt wie vor ihm schon Seitz und teilweise auch Dietrich Schulze-Marmeling („Der gezähmte Fußball“) bei der Beobachtung der Verbindungen zwischen politischer Geschichte und Fußball den Eigensinn der Fußballkultur.
Ein Ausdruck dieser Haltung ist das Phänomen der „Netzereien“. Der Mönchengladbacher Günter Netzer, „der Höhepunkt des deutschen Fußballs“, steht dabei nicht nur für den Gipfelpunkt des deutschen Fußballs, die Europameisterschaftsspiele 1971/72, sondern auch für sozialdemokratische Aufbrüche, Willy wählen, kurz: die gute Bundesrepublik. Oder, wie Böttiger es formuliert: „Schönheit gegen Erfolg. Denken gegen Aussitzen. Links gegen Rechts.“ Nach dem kurzen Sommer der Demokratie kam Schmidt, dann Kohl und darauf abgeglichen: viel schlechter Fußball.
Netzer ist im kleinen Kreis der „anderen“, der feuilletonistischen Fußballschreiber zu einer Mega- Metapher geworden. Und mehr noch, Netzer war damals einer, wie man selber war oder sein wollte: Netzer, der Rebell, der Querdenker, der Eigensinnige. Mit dieser hemmungslosen Überbewertung des heutigen Fernsehsport-Werbemaklers einher geht der Abscheu vor den Profis der neunziger Jahre. Die sind erstens keine Netzers, auch nicht mehr diese proletarisch- folkloristischen, „kantigen, vertrackten Figuren“, sondern vermitteln „nichts als Mainstream, Einbauküchen- und Angestelltenflair“. Das riecht einerseits etwas nach Generationskonflikt, unterschlägt aber vor allem, daß sich früher hilflose Zwanzigjährige mangels drohender laufender Kameras nicht in Floskeln flüchten mußten, die sie bei ihren Kollegen abgehört hatten: „Ja, gut!“
Das „Unbehagen in der Fußballkultur“, das Böttiger und andere Diskutanten überfällt, hat viel mit der Unkultur medialer Vermittlung des Spiels zu tun. Da sind Böttigers Analysen vom Niedergang der Radioreportage und viele Anmerkungen zur Fernsehberichterstattung zwar völlig richtig, unterschlagen wird aber, daß es noch mehr gibt. Die Lust auf das Spiel entsteht nicht vor dem Fernseher, sondern im Stadion. Erst dort setzt sich das auf dem Bildschirm fragmentierte Spiel wieder zusammen. Nicht nur durch den Blick auf ein ganzes Spielfeld, sondern auch durch den vitalen Witz der Besucher auf den Tribünen.
Helmut Böttiger weiß das wohl auch, weshalb er ja zu Reisen nach Nürnberg, ins Ruhrgebiet, Freiburg, St. Pauli und zu Türkiyemspor Berlin aufgebrochen ist, um ein Bild der „Vereine als in sich geschlossene Sinneinheiten“ zu zeichnen. Aber trotz sehr liebevoller Beschreibungen – besonders in Nürnberg – übermannt ihn auch dabei mitunter wieder Fußball- Kulturpessimismus, im Fall des SC Freiburg mit einer skurrilen Pointe. Da das Buch vor dem Aufstieg des Clubs in die Bundesliga geschrieben wurde, hantiert Böttiger noch mit der Option einer Aufstiegsverweigerung: „Das Ideal für den SC ist nämlich: immer um den Aufstieg zu kämpfen und knapp daran zu scheitern. Die Bundesliga ist dem Freiburggefühl abhold.“
So ganz glücklich will Böttiger mit dem Fußball nicht werden. Überall drohen Einbrüche des anderen und Veränderungen, die sentimental machen. Als wirkliche Zukunftsoptionen bietet er nur – „die Hoffnung kommt von den Rändern“ – unverbildete Neger und lustige Dänen. Neben dem „Prinzip Afrika“, nämlich Kamerun bei der Weltmeisterschaft 1990, und dem Prinzip Dänemark“, 1992 vom Liegestuhl zur Europameisterschaft, bleiben Entwicklungen in Deutschland leider unberücksichtigt. Das langsame Entstehen einer eigenen Fankultur, die sich an vielen Orten mit Anti-Rassismus-Initiativen, Kampagnen gegen Sitzplatzstadien und Einzäunungen immer deutlicher zu Wort meldet, wird nur am Rand zur Kenntnis genommen. Wie auch die zarten Änderungen, die sich durch einen Generationswechsel bei den Bundesligatrainern andeuten. Mit Lienen, Möhlmann oder Finke sind heute erstmals Trainer an den Schalthebeln des Spiels, die mit der Alternativkultur der siebziger Jahre groß geworden sind.
Und dann ist da immer noch das archaische Vergnügen daran, daß die eigene Mannschaft in der letzten Spielminute gegen den verhaßten Lokalrivalen, den überlegenen Favoriten oder einfach gegen irgendwen den erlösenden Siegtreffer schießt. Böttigers „Hilfeschrei in letzter Minute“ kommt, trotz vieler bedenklicher Entwicklungen, vielleicht doch eine Halbzeit zu früh.
Helmut Böttiger: „Kein Mann, kein Schuß, kein Tor“. C.H. Beck, 194 Seiten, 16,80 DM
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