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Fußball in der Puppenstube

Im Eröffnungsspiel der Fußball-Europameisterschaft trennten sich Schweden und Frankreich 1:1 unentschieden  ■ Aus Stockholm Matti Lieske

Seit vier Wochen scheint in Stockholm die Sonne — eine Hitzewelle wie seit Gustav Adolfs Zeiten nicht mehr — und das schwedische Volk ist hochzufrieden. Stillvergnügt sitzt es in lauschigen Gartenwirtschaften, blickt hinaus auf das zahlreich vorhandene Wasser und disputiert über die beiden Themen, die derzeit unvergleichlich wichtiger sind als alles andere auf der Welt: das Wetter und die Fußball-Europameisterschaft. Letztere, da waren sich vor dem Eröffnungsspiel gegen Frankreich nahezu alle einig, wird Schweden gewinnen. Wem derart die Sonne lacht, dem droht keine Unbill.

Vergessen die Schlappe von 1986, als die Mexiko-WM verpaßt wurde, weil sich die Deutschen eine peinliche Heimniederlage gegen Portugal leisteten, vergessen auch das Debakel von Genua 1990, als ein kleines Fleckchen Erde namens Costa Rica zum WM-Stolperstein wurde. Die Euro '92 findet im eigenen Land statt, so wie die Weltmeisterschaft von 1958, nur sind diesmal keine Brasilianer dabei. Wer also soll die Gastgeber schlagen?

Mit dem Turnier in Schweden hat sich die UEFA von der Gigantonomie der letzten großen Veranstaltungen abgewandt. Nach den Massenspektakeln von San Siro, im Aztekenstadion oder Olympiastadion von München wird diese Europameisterschaft in kleinen, schnuckeligen Arenen ausgespielt. Das Ullevi in Göteborg ist mit gerade mal 35.000 Plätzen die größte, 27.000 passen ins Stockholmer Rasunda-Stadion. Anstelle gewaltiger, schwer zu bändigender Menschenmengen werden die Tribünen von braven und nicht zuletzt betuchten (die billigste Karte kostet um die 80 Mark) Bürgern bevölkert — leicht zu kontrollieren, aber in den engen Stadien dennoch eine imposante Geräuschkulisse. Zahlende Zuschauer werden im Zeitalter des Fernsehens immer unwichtiger, die Zukunft des Fußballs liegt in der Puppenstube. Nur — wie spielt man in einer Puppenstube Fußball? Michel Platini, Teamchef der Franzosen, hätte mit dem winzigen Spielfeld von Rasunda in seiner aktiven Zeit vermutlich wenig Probleme gehabt. Mit seinen kongenialen Kumpanen Tigana und Giresse hätte er ein präzises Kurzpaßspiel vollführt, daß den Schweden die Augen übergegangen und die Füße schwer geworden wären. Aber: „Ich kann nur die Spieler aufstellen, die ich habe“, klagt Platini traurig, „gebt mir einen Scifo oder Maradona, und ich lasse ihn gern spielen.“

Die Ära technischer Brillanz ist auch bei den Franzosen vorüber, Platinis Mittelfeldkräfte Sauzee und Deschamps sind bei Olympique Marseille im Schatten des begnadeten Ghanaers Abedi Pele eher für das Grobgestrickte zuständig und mußten in Stockholm erkennen, daß es in einem übervölkerten Mittelfeld recht schmerzlich ist, wenn einem bei jeder Ballannahme das Leder fünf Meter wegspringt. Lediglich Libero Laurent Blanc und Jocelyn Angloma auf der linken Seite vermochten es, den Ball gegen die Schweden zu behaupten, und da diese ebenfalls die Feinheiten der Technik ihrer Kampfkraft opferten, entwickelte sich ein arges Gewurschtel, in dem vor allem die Stars der beiden Teams glatt untergingen. Stürmer Tomas Brolin, mit dem AC Parma gerade italienischer Pokalsieger geworden, ist in Schweden allgegenwärtig. Der 22jährige wirbt stilecht für Parmesankäse und Parmaschinken, seine Physiognomie ziert Notizbücher, Tischfußballspiele, Radiergummis und die Titelseiten aller Zeitungen. Lediglich auf dem Spielfeld war sie kaum zu sehen. Auf der anderen Seite schmachtete Jean-Pierre Papin im festen Griff Jan Erikssons dahin und fiel, abgesehen von einem dynamischen Solo in der 6. Minute, nur auf, wenn er mal wieder ins Abseits rannte. Das Spiel der Schweden lief meist über Anders Limpar — bei Arsenal London nicht unbedingt als Gemütsmensch bekannt — der sich mit Angloma äußerst giftige Duelle bis zum Rande des Platzverweises lieferte. Limpar war es auch, der in der 25. Minute eine Ecke in den Strafraum zirkelte, wo völlig mutterseelenallein Papin-Bewacher Eriksson in der erstarrten Franzosenabwehr spazierenging und das 1:0 köpfte. Danach kam die beste Phase der Schweden, die sich zu einigen raffinierten Kombinationen hinreißen ließen. Es sah nicht gut aus für die Franzosen, und als Sauzee in der 45. Minute einen 60-Meter-Steilpaß schnurstracks in die Arme des Schweden-Keepers Ravelli bolzte, verdrehte Platini die Augen gramvoll gen Himmel.

Jean-Pierre Papin war es, der seinem Teamchef die gewohnte gute Laune rettete und gleichzeitig deutlich machte, was ihn von seinem Stürmerkollegen Eric Cantona unterscheidet. Der rackerte mächtig, war oft am Ball, brachte aber kaum etwas Produktives zustande, Papin hingegen berührte das Leder so gut wie nie, aber dafür einmal richtig. Bei einem Steilpaß von Deschamps in der 59. Minute stand er ausnahmsweise auf gleicher Höhe mit seinen Gegenspielern, ein paar schnelle Schritte, ein trockener Flachschuß vom rechten Strafraumeck, und schon stand es 1:1. Damit waren alle zufrieden. Zwar läßt das Reglement der EM nur wenig Raum für taktische Spielereien, oberstes Gebot jeodch ist, das erste Match nicht zu verlieren. Geheimfavorit Frankreich hat den Kopf noch einmal aus der Schlinge gezogen und die Schweden träumen nach diesem „Smakstart“ ('Dagens Nyheter‘) weiter unbeirrt von der Meisterschaft.

Frankreich: 1 Martini (AJ Auxerre) - 5 Blanc (SSC Neapel) - 13 Boli (Olympique Marseille), 6 Casoni (Olympique Marseille) - 20 Angloma (Olympique Marseille) ab 67. 10 Fernandez (AS Cannes), 8 Sauzee (Olympique Marseille), 18 Cantona (Leeds United), 7 Deschamps (Olympique Marseille), 2 Amoros (Olympique Marseille) - 9 Papin (Olympique Marseille), 16 Vahirua (AJ Auxerre) ab 46. 11 Perez (Paris Saint- Germain).

Zuschauer: 28.000.

Tore: 1:0 Jan Eriksson (25.), 1:1 Papin (59.)

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